Deutscher Taliban-Kämpfer vor Gericht
2. Dezember 2018Der Blick wandert auf die andere Seite der Scheibe. Suchend schaut er in den Zuschauerraum des Oberlandesgerichts (OLG) in Düsseldorf. Der große, schlanke Mann mit den kurzen blonden Haaren und dem gestutzten Bart wirkt verloren. Dann die Erleichterung. Seine Unterstützung ist da: Mutter, Schwestern, Tanten. Ein kurzes Winken, ein Lächeln. Thomas K. setzt sich mit hängenden Schultern hin. Als Richter Lutz Bachler ihn zum Prozessauftakt anspricht, verhaspelt sich der Angeklagte nervös. Ist dieser Mann, der vor Gericht eine geradezu devote Haltung einnimmt, der kühl berechnende Bombenbauer der Taliban?
Die Anklage ist davon überzeugt. Der seit Mitte Oktober laufende Prozess findet nicht im Hauptgebäude des OLG statt, sondern ein paar Kilometer entfernt im abgeriegelten Hochsicherheitstrakt. Ein Betonklotz mit Hubschrauberlandeplatz auf dem Dach. Hier müssen sich Terrorverdächtige verantworten.
Krank oder schuldfähig?
Thomas K. wird Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung, ein Verstoß gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz und versuchter Mord vorgeworfen. Gleich in seiner ersten Wortmeldung weist er darauf hin, dass er an einer "Schizophrenie und depressiven Schüben" leide. Doch die zwei Sachverständigen, die K. ausgiebig untersucht haben, kommen zu einem anderen Schluss.
Im abschließenden psychiatrischen Gutachten attestieren sie Thomas K. eine "kombinierte Persönlichkeitsstörung mit schizoiden Zügen". Einfacher ausgedrückt: eine soziale Kontaktschwäche, einen schweren Zugang zu den eigenen Gefühlen. Deswegen bestehe aber "keine verminderte oder gar aufgehobene Schuldfähigkeit", so Psychiater Norbert Leygraf.
Im August 2012 reist K. nach Karachi in Pakistan aus. Zur Tarnung hat er ein Rückreiseticket im Gepäck. Im Grenzgebiet zu Afghanistan schließt er sich dann den Taliban an. Fünfeinhalb Jahre später, im Februar 2018, wird K. in der südafghanischen Provinz Helmand bei einer nächtlichen Razzia von afghanischen und US-Spezialeinheiten festgenommen. Auch Waffen werden sichergestellt.
Wochenlang wird er anschließend verhört, zunächst auf der US-Militärbasis Bagram nördlich von Kabul, dann in der Hauptstadt. Dort holen ihn im April Mitarbeiter des Bundeskriminalamtes (BKA) ab und bringen ihn zurück nach Deutschland. Das BKA hatte schon Ende 2014 vor Thomas K. gewarnt. Die UN-Mission in Kabul verbreitete die Warnung damals in einer Rundmail mit den Worten weiter, dass "der deutsche Staatsbürger Thomas K. im Raum Kabul einen Anschlag planen könnte, möglicherweise auf eine internationale Einrichtung".
Die afghanischen Behörden vermuten unmittelbar nach der Festnahme im Februar, dass sie es mit einem deutschen "Militärberater" der Taliban zu tun haben. Die deutschen Medien bezeichnen Thomas K. in großen Überschriften als "Taliban-Terrorist" und "mutmaßlichen Elitekämpfer" der Taliban. Der Angeklagte selbst interpretiere den Dschihad als "muslimische Version des deutschen Wehrdienstes", sagt Psychiater Leygraf vor Gericht. Thomas K. habe die Taliban, die er als Bürgerkriegspartei und nicht als terroristische Vereinigung ansehe, in ihrem "Befreiungskampf" unterstützen wollen. Ein Schuldbewusstsein habe er bei K. nicht erkennen können.
Wie alles begann
K. wird im Sommer 1981 in Polen geboren, wächst aber in Deutschland auf. Seine Kindheit beschreibt er als "normal". Als er 16 Jahre alt ist, stirbt sein Vater. Wenige Monate später konvertiert der Teenager zum Islam. Vor Gericht berichtet K. über seine Jugend, dass er von einer "inneren Zerrissenheit" geplagt worden sei. Die Bundeswehr mustert ihn wegen seiner psychischen Probleme aus. Zweimal wird er in den folgenden Jahren psychiatrisch stationär behandelt. Eine Berufsausbildung hat er nicht, nur einen Hauptschulabschluss. Seit 2006 gilt er als erwerbsunfähig.
Thomas K. sucht nach einer Tätigkeit, die ihn ausfüllt. Er engagiert sich bei einer muslimischen Hilfsorganisation in der Stadt Worms und formt sich ein neues Weltbild, in dem eine radikale Interpretation des Islam alles beherrscht. Der Konvertit gerät schnell ins Visier deutscher Terrorermittler und kann später dennoch ungehindert nach Pakistan ausreisen.
Er selbst sagt rückblickend über diese Zeit, dass sein Wunsch, den Islam so "originär" wie möglich zu leben, immer stärker geworden sei. In Deutschland sei das nicht möglich gewesen.
Terrorist oder Mitläufer?
Der Hamburger Kriminalwissenschaftler Daniel Zerbin beschäftigt sich intensiv mit den Profilen von Terrorverdächtigen. Er beurteilt die Aussagen von Thomas K. skeptisch und spricht von "Neutralitätsstrategien, um die eigene Schuld abzuschwächen". Außerdem würden "Quantität und Qualität des Aufenthalts deutlich dafür sprechen, dass K. ein geachtetes Mitglied bei den Taliban war".
Tatsächlich verbringt Thomas K. im Taliban-Gebiet auch Zeit in den Reihen des berüchtigten Haqqani-Netzwerks. Die Terrorgruppe soll unter anderem für den besonders verheerenden Tanklaster-Anschlag auf die Deutsche Botschaft in Kabul am 31. Mai 2017 verantwortlich sein, bei dem mehr als 150 Menschen ums Leben kamen.
K.'s Name taucht auf einer Liste für potenzielle Selbstmordattentäter auf. Er gibt zu, dass er ein ferngesteuertes Fahrzeug bauen wollte, um einen Anschlag auf einen US-Militärkonvoi zu verüben. Er absolviert ein Fahrtraining, hat Spaß daran, "über Schotterpisten zu brettern". Der Fahrlehrer sei mit seinem Fahrstil allerdings "nicht so glücklich" gewesen, und er sei auf der Liste der Attentäter ganz nach unten gerutscht.
Schwierige Beweislage
Thomas K. sucht nach eigenen Angaben nach einer neuen Aufgabe und findet sie in der sogenannten "Medienarbeit". Er will mit Yassin Chouka eine "Dokumentation" über die Taliban drehen. Die deutsch-marokkanischen Brüder Yassin und Mounir Chouka aus Bonn sind bekannte Dschihad-Propagandisten und halten sich zeitgleich im pakistanischen Grenzgebiet zu Afghanistan auf.
Die Dreharbeiten hätten im Sommer 2014 begonnen, berichtet der Angeklagte vor Gericht. Er selbst habe sich dabei filmen lassen, wie er eine Mörsergranate auf ein afghanisches Armee-Camp abfeuerte. Das Geschoss verfehlt sein Ziel, doch der Vorfall bringt ihm in Deutschland den Anklagepunkt "versuchter Mord" ein.
Wer hatte die Idee zu diesem Film? Wer war dabei? Warum feuerte K. selbst? Die Anklage hakt immer wieder nach, denn sie hat das Video nicht gesehen. Was mit dem Material passiert ist, bleibt unklar. Es gibt keine Zeugen. Die Chouka-Brüder zieht es schon kurz nach Drehbeginn Richtung Syrien. Yassin soll 2015 im Iran ums Leben gekommen sein, Mounir gilt als verschollen.
Der Hase, der Igel und der Knall
Thomas K. hat das mutmaßliche Propaganda-Video in seinen Verhören selber zur Sprache gebracht. Ohnehin stützt sich die Anklage in weiten Teilen auf seine Aussagen. Eindeutige Beweise aus seinen rund fünf Jahren bei den Taliban fehlen. Das macht diesen Prozess so schwierig.
K. habe sich entschlossen, ein Geständnis abzulegen, sagt sein Pflichtverteidiger Yorck Fratzky der Deutschen Welle. Grund für diese Haltung sei ein "Umdenkprozess" seines Mandanten, der bereits 2015 stattgefunden habe.
Thomas K. hofft auf Strafmilderung. "Was ich damals gemacht habe, war ein Fehler", räumt er ein. "Ich habe mich von allem distanziert, nur nicht von der Medienarbeit." Es sei nur darum gegangen, die afghanischen Soldaten im Camp zu erschrecken. Und dann sagt der Terrorverdächtige noch etwas. "Ich frage mich, was ich mit dem Knall ausgelöst habe. Ich habe Insekten durch den Schall getötet, und vielleicht auch Hasen oder einen Igel. Das wird mir am Tag des Jüngsten Gerichts vorgehalten werden." Stille im Saal. Sekundenlang.
Eine Frage der Glaubwürdigkeit
Ohne merkliche Gefühlsregungen verfolgt er hinter Panzerglas, wie auch fünf Mitarbeiter des Bundeskriminalamtes in den Zeugenstand treten. Es sind die Beamten, die ihn verhört haben. In Afghanistan und in Deutschland. Alle hatten über Stunden mit ihm zu tun. Wie ein roter Faden ziehen sich immer dieselben Adjektive durch ihre Schilderungen. "Freundlich" sei der Angeklagte gewesen, "offen", "höflich", "ruhig", "reflektiert".
"Haben Sie ihm geglaubt?", will der Richter wissen. Die BKA-Beamten zögern nicht lange. "In meiner Erinnerung hat sich das alles zu einem schlüssigen Gesamtbild zusammengefügt", sagt der erste. "Ja, ich nehme ihm das so ab", gibt ein anderer an. "Ich habe ihm geglaubt", sagt ein dritter.
Das Urteil soll noch im Dezember fallen. "Ich lehne mich mal etwas aus dem Fenster", sagt der Vorsitzende Richter Lutz Bachler schon am Ende des fünften Prozesstages zu Thomas K: "Wir sehen Sie hier nicht als Top-Terroristen an. Aber Sie sind auch kein Pflaumendieb, da müssen wir uns nichts vormachen." Das Strafmaß hängt an der Glaubwürdigkeit des deutschen Taliban-Mitglieds Thomas K.