Deutsches Nachkriegskino wird neu bewertet
1. Juli 2017Als beim Filmfestival in Locarno im vergangenen Jahr die Retrospektive "Geliebt und verdrängt: Das Kino der jungen Bundesrepublik Deutschland 1949 - 1963" über die Festivalleinwände flimmerte, da war das Staunen vor allem der Zuschauer aus dem Ausland groß. Hier wurde ein deutsches Nachkriegskino präsentiert, das, abseits von Heimatfilmklischees und Verdrängungsmythen, offenbar mehr zu bieten hatte als bisher bekannt.
Locarno-Retrospektive wird auch in New York und Washington gezeigt
Genrekino verschiedenster Couleur, hintergründige Gesellschaftsanalysen, schwerblütige Melodramen - das deutsche Kino im ersten Jahrzehnt nach Ende des Zweiten Weltkriegs schien künstlerisch und ästhetisch, aber auch von den erzählten Geschichten, breiter aufgestellt gewesen zu sein, als im Gedächtnis der meisten Zuschauer und Filmhistoriker. Die Retrospektive wurde im Anschluss an Locarno in verschiedenen deutschen, europäischen und nordamerikanischen Städten gezeigt.
Parallel zu dieser Neubewertung des deutschen Nachkriegs-Kinos wird seit kurzem auch die sich in den 1960er Jahren anschließende Dekade des deutschen Films neu interpretiert. In Aufsätzen, Dokumentarfilmen und auf Festivals werden nun auch die 1960er und '70er Jahre anders gesehen als bisher.
Bis vor kurzem lautete die gängige Meinung in etwa so: Nach dem Niedergang des deutschen Films mit Heimat- und Verdrängungsfilmen der '50er waren es die Regisseure des "Oberhausener Manifests", die dem deutschen Kino in den 1960er Jahren wieder künstlerisches Leben einhauchten: Regisseure wie Edgar Reitz und Alexander Kluge, Rainer Werner Fassbinder, Volker Schlöndorff, Wim Wenders und Werner Herzog standen für den "Neuen Deutschen Film" und erwarben auch im Ausland Preise und Anerkennung.
Fragen nach einer Neubewertung deutscher Filmgeschichte
Doch auch diese Ansicht wird in jüngster Zeit zunehmend hinterfragt. Sind aufgrund einseitiger Fokussierung auf die genannten Regisseure nicht viele andere Talente zu wenig beachtet oder gar missachtet worden? Konnten diese "anderen" Talente sich deswegen weniger entfalten und wurden auch von den verantwortlichen Gremien weniger gefördert? Und ist das Kino des "Neuen Deutschen Films" nicht sowieso viel zu verkopft und intellektuell? Diese Fragen werden inzwischen von einigen Publizisten, Kritikern und auch Regisseuren gestellt und häufig mit Ja beantwortet.
Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund sind in jüngster Zeit einige Filme weniger bekannter Regisseure erschienen. Drei Beispiele:
"Die Weibchen" von Zbynek Brynych (1970)
Der aus der Tschechoslowakei stammende Regisseur war einer der Mitbegründer der "Neuen tschechischen Welle" und drehte einige formal aufsehenerregende Filme. Später ging Brynych in die Bundesrepublik und inszenierte Spiel- und Fernsehfilme sowie einige Folgen beliebter TV-Serien. Sein Film "Die Weibchen" bot 1970 dann eine wilde Mischung aus Horrorfilm, Emanzipations-Farce und Popkino.
Sexuelle Befreiung und Anarcho-Emanzipation
Ein Werk, das nur vor dem Hintergrund der sexuellen Befreiung der damaligen Zeit, einer anarchistisch-emanzipatorischen Bewegung sowie der Hippie-Ära zu verstehen ist: Die junge Eve (Uschi Glas, unser Bild oben) tritt nach einem Nervenzusammenbruch eine mehrwöchige Kur in Bad Marein an. In dem Sanatorium trifft sie fast ausschließlich auf geheimnisvoll auftretende Frauen.
Im Bad Marein arbeiten nur wenige Männer, die augenscheinlich mit den Frauen paktieren. Nur ein paar Männer, die wegen einer Autopanne in dem Kurort gestrandet sind, sind scheinbar "normal". Wie sich schnell herausstellt, ist Eve in einem ganz außergewöhnlichen Sanatorium gelandet: Die männlichen Besucher werden nach und nach bestialisch von den Frauen getötet.
"Die Weibchen" ist eine wüste Popcollage mit schnellen Perspektivwechseln, unkonventionellen Kameraperspektiven, optischen Experimenten und Tonspielereien. "Das Publikum will im Kino nicht das sehen, was es täglich tut" lautetet das Credo von Brynych damals. "'Die Weibchen' richtet sich an ein Publikum, dem die Form wichtiger ist als die Story. Man muss empfänglich für stilvolle Dekorationen und Kostüme sein, für gewagte Bildaufteilungen und eine surreale Ästhetik, um die Arbeit von Brynych zu würdigen", schreibt der Filmpublizist Frank Noack im Booklet der DVD-Ausgabe. In der Tat: "Die Weibchen" ist eine wüster, um nicht zu sagen: kruder, filmischer LSD-Trip, Geschmackssache.
"Mädchen, Mädchen" von Roger Fritz (1966)
Auch hier tritt ein junges Mädchen zu Beginn der Filmhandlung eine Reise an. Doch diesmal ist es eine Rückkehr. Angela (Helga Anders) kommt nach einem mehrmonatigen Aufenthalt in einer Erziehungsanstalt zurück zum Ort, den sie einst zwangsweise verlassen musste.
Roger Fritz schaute auf den Generationenkonflikt von 1968
In einer Zementfabrik hatte sie sich, noch minderjährig, mit dem Besitzer des Werks eingelassen. Der wurde zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Nach ihrer Rückkehr nun beginnt Angela eine Beziehung mit dem Sohn des Chefs - bis zu dem Zeitpunkt, an dem der besitzergreifende Vati wieder zurückkommt.
Regisseur Roger Fritz, Fotograf, Filmemacher und Produzent, ist einer jener Regisseure, der nach Meinung vieler Kritiker zu Unrecht vergessen worden ist oder im Schatten seiner heute wesentlich bekannteren Zeitgenossen vom "Neuen Deutschen Films" steht. Zumindest Fritz' Debüt "Mädchen, Mädchen" lohnt heute ein Wiedersehen auf jeden Fall.
Der Film ist ein in wunderbaren Schwarz-Weiß-Aufnahmen verfilmtes Adoleszenz-Drama, das den Epochen- und Generationenkonflikt der '68-Jahre vorwegnimmt: "Fritz ist in seinem ersten Spielfilm auch ein Chronist der sexuellen Befreiung, sieht ihr Potential, ohne dabei ihre Schattenseiten zu leugnen", meint der Filmhistoriker Christoph Huber zu "Mädchen, Mädchen".
"Alle Jahre wieder" von Ulrich Schamoni
Der Filmregisseur Ulrich Schamoni gehörte in den 1960er durchaus - im Gegensatz zu Brynych oder Fritz - zum anerkannten Kreis des "Neuen Deutschen Films". Doch seine Filme galten schon damals als "leicht" und so ist Schamonis Werk heute ein wenig in Vergessenheit geraten. "Alle Jahre wieder", den der Regisseur im Jahr 1966 drehte, bietet heute aber einen verblüffend frivolen Blick hinter die Kulissen der Bourgeoisie.
Heuchelei hinter bürgerlich-kirchlicher Fassade
Der Familienvater Hannes kommt mit seiner jungen Freundin Inge zu Weihnachten nach Hause nach Münster. Dort feiert er zusammen mit seiner Frau Lore und der Familie das heilige Fest, während Inge im Hotelzimmer wartet und durch Münster streift. Dass Hannes und Lore seit Jahren mit jeweils neuen Partnern in "wilder" Ehe leben, wird vor den Kindern und Schwiegereltern geheim gehalten. Auch im erzkatholischen Münster, der Kleinstadt, in der jeder jeden kennt, wird die gutbürgerlich-moralische Fassade aufrecht erhalten.
"Alle Jahre wieder" lenkt den Blick schonungslos und mit auch für heutige Verhältnisse überraschender Deutlichkeit auf das bürgerliche Ambiente der bundesrepublikanischen Nachkriegsgesellschaft. Wie "Mädchen, Mädchen" erinnert er mit seiner schwarz-weiß-Ästhetik und seiner beiläufigen Erzählhaltung an die Filme der französischen Nouvelle Vague.
"Die Weibchen" ist beim DVD-und Blu-ray-Anbieter "Bildstörung" erschienen. "Mädchen-Mädchen" liegt in der Reihe "Edition Deutsche Vita" bei "Media Target" vor. "Alle Jahre wieder" ist bei "LWL-Medienzentrum für Westfalen" herausgekommen. Alle drei DVD-Editionen enthalten umfangreiche Extras wie Booklets, Interviews und Audiokommentare.