Deutschland, ein "Comic-Entwicklungsland"
19. März 2016Stimmengwirr, Musik wummert aus den Lautsprechern. Hunderte von Ständen locken mit ihren bunten Auslagen: Von Comics über Plüsch-Pokémons bis hin zur kompletten Darth Vader-Montur wird dort alles angeboten, was das (Fan)-Herz begehrt. Dazwischen bahnen sich kostümierte Fantasiewesen ihren Weg durch die Messegänge: Willkommen bei der "Manga-Comic-Con"! Seit nun mehr drei Jahren ist die Convention fester Bestandteil der Leipziger Buchmesse und ein Muss für Comicleser und Cosplayer - Fans, die sich in ihre Lieblingsfiguren aus Comics, Serien und Computerspielen verwandeln.
Eine spannende und spaßige Angelegenheit, aber auch eine totale Reizüberflutung. Wie mag das erst für einen Menschen mit Asperger-Syndrom sein, der Reize und Informationen aus seiner Umwelt noch sehr viel intensiver wahrnimmt? Noch dazu, wenn er in dieser Atmosphäre vier Stunden lang Bücher signiert: "Wenn ich signiere, versinke ich in meine Arbeit und vergesse teilweise völlig, wo ich bin", erklärt Comiczeichnerin Daniela Schreiter. "Dadurch blende ich alles andere aus."
2009 wurde bei der jungen Berlinerin das Asperger-Syndrom diagnostiziert. Um ihre Diagnose besser zu verarbeiten, hat sie einen Comic darüber gezeichnet. "Wörter haben allein nie ausgereicht", so die 33-Jährige im Gespräch mit der Deutschen Welle. "Ich brauchte auch die Bilder, um zu zeigen, wie es ist, als Autist zu leben, zu sehen, zu fühlen." Ihr autobiographisches Debüt "Schattenspringer", in dem sie ihre Kindheit beschreibt, war direkt so erfolgreich, dass sie kurz darauf einen zweiten Teil über ihre Jugendzeit veröffentlichte.
Comics wurden lange Zeit belächelt
"Ich hatte nie mit dem Erfolg des Comics gerechnet", sagt Daniela Schreiter. "Vor allem, weil das Thema doch sehr speziell ist." Mittlerweile werden ihre Bücher sogar bei Schulungen für Asperger-Therapeuten eingesetzt.
Aber Danielas Geschichte ist nicht nur was fürs Fachpublikum, wie die lange Schlange vor ihrem Signiertisch beweist. Das Interesse an ernsteren Comics, die etwa gesellschaftliche oder politische Themen aufgreifen, war in Deutschland nie größer. Das war bei Weitem nicht immer so: Lange Zeit waren die gezeichneten Geschichten in Deutschland verpönt oder wurden zumindest belächelt. Erst nach und nach hat sich der deutsche Buchmarkt für das bildstarke Medium geöffnet. Mittlerweile gibt es kaum eine Buchhandlung ohne Comics, Mangas oder Graphic Novels im Sortiment, und immer öfter liest man unter den vielen Titeln auch die Namen deutscher Autoren: Künstler wie etwa Ralf König, Reinhard Kleist, Felix Görmann (Flix), Isabel Kreitz sind international anerkannt.
Im Vergleich mit den "Comic-Hochburgen" wie den USA, Frankreich oder Belgien ist die deutsche Szene allerdings weiterhin recht klein. "Deutschland ist ein Comic-Entwicklungsland", meint Steffen Volkmer, Redakteur und PR-Manager beim Panini-Verlag. "Im internationalen Vergleich hinken wir etwa zehn Jahre hinterher." Das sei auch historisch begründet, so der Verlagsmitarbeiter weiter: "Comics hatten ihre Hochphase während und nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Amerikaner und die Franzosen benutzen sie zur Erbauung ihrer Truppen, in Deutschland hingegen gab es zu diesem Zeitpunkt keine Comic-Kultur." Erst mit den Siegermächten schafften es die Bildgeschichten nach Deutschland und stießen dort nicht auf viel Gegenliebe: "Die alte Generation, die den Krieg miterlebt und auch gesehen hat, wie die Besatzer da waren, hat diese Kultur abgelehnt." Comics seien deswegen schnell mit Stigmata belegt worden: Sie würden verdummen, im besten Fall seien sie etwas für den leichten Intellekt oder für Kinder.
Der Ruf des Comics als Kinder- und Jugendbuch war besiegelt
Dementsprechend wurden über Jahrzehnte fast ausschließlich kinder- oder jugendtaugliche Comics importiert - wie etwas "Batman" aus den USA oder "Asterix und Obelix" aus Frankreich. Auch die deutschen Zeichner zielten mit Geschichten wie "Fix und Foxi" auf ein junges Publikum. Ende der 1960er Jahre kamen dann die ersten französischen und italienischen Comics für Erwachsene in deutscher Übersetzung auf den Markt - ohne großen Erfolg. Die Independent-Szene in Deutschland war zwar seit jeher sehr rege, aber erst in den 1990er Jahren sprachen Künstler wie Brösel ("Werner") oder Walter Moers ("Das kleine Arschloch") dann auch ein breiteres Publikum an.
Es dauerte noch einige Jahre, bis sich auch das Feuilleton für das Medium Comic interessierte und die Verlage ihr Portfolio erweiterten. "Damit ging dann auch endlich die Erkenntnis einher, dass Comic durchaus ein ernstzunehmendes Medium sind", so Panini-Mitarbeiter Volkmer. Gerade die stilistisch originelle Graphic Novel konnte die traditionelle Leserschaft begeistern. Bei dieser Bezeichnung geht es weniger um eine präzise Gattungsbeschreibung, denn um eine neue Form: Anders als beim Comic ist die Graphic Novel abgeschlossen und wird ausschließlich in Buch- und nicht in Heftform angeboten.
Die Veröffentlichungen haben sich verdreifacht
"Derzeit ist der deutsche Comic-Markt so gesund und so gut, wie er noch niemals zuvor war", so Volkmer. "2000 hatten wir um die 20 Neuerscheinungen pro Monat. Mittlerweile sind es zwischen 40 und 50." Bei anderen Verlagen sei das nicht anders. "Aber man hat trotzdem dieses bange Gefühl im Rücken, ob das so gut weitergehen kann."
Ein womöglich nicht ganz unberechtigtes Gefühl, denn noch immer können die wenigsten Künstler in Deutschland von ihrem Schaffen leben. Comiczeichnerin Daniela Schreiter hat es geschafft. Im nächsten Jahr wird sie eine neue Geschichte veröffentlichen. Dieses Mal keine autobiographische, aber dennoch eine, die sich mit dem Asperger-Syndrom beschäftigt. "Die deutsche Comicszene ist im Kommen", ist sich die junge Frau sicher, "sie entwickelt sich. Zwar langsam, Schritt für Schritt, aber sie wird immer besser!" Man darf gespannt sein.