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Deutschland lernen - Buchstabe für Buchstabe

7. September 2010

Ob im Supermarkt, einer unbekannten Stadt oder beim Arzt - ohne lesen und schreiben zu können, ist man in Deutschland fast verloren. Wenn man auch noch aus einem anderen Land kommt, dann wird es ganz schwierig.

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Tafel mit Symbolen und Worten beim Alphabetisierungskurs in Herne (Foto: DW)
Bild: DW

"Haus, wie schreibt man das?", fragt die Deutschlehrerin in der Volkshochschule Herne in den hellen Klassenraum. "H - au - s" antworten fünf Frauen und ein Mann fast gleichzeitig. Sie kommen aus verschiedenen Ländern und haben hier im Alphabetisierungskurs für Migranten ein gemeinsames Ziel: Sie wollen lesen und schreiben lernen, einige von ihnen zum ersten Mal in ihrem Leben. In Statistiken werden sie primäre Analphabeten genannt.

Rätselhafter Alltag

Die 30-jährige Azzouzia Taalaoui kam vor fünf Jahren aus Marokko nach Deutschland. In Marokko habe sie - ohne lesen und schreiben zu können - nicht so viele Probleme gehabt. "Aber hier in Deutschland musst du ein Schild lesen, wohin du gehen willst. Welche Medikamente der Kinderarzt aufschreibt, musst du auch lesen."

Frau schreibt in Fiebel beim Alphabetisierungskurs in Herne (Foto: DW)
Alphabetisierungskurs für MigrantenBild: DW

16.300 Migranten haben wie Taalaoui im Jahr 2009 einen Alphabetisierungskurs in Deutschland begonnen. Die Teilnehmer leben im Durchschnitt bereits zwölf Jahre in Deutschland, bevor sie einen Kurs besuchen. Birthe Winkelmann, die Deutschlehrerin von Taalaoui weiß, dass oft schon Kleinigkeiten in dem fremden Land für ihre Schüler zum Problem werden können: "Ich hatte in einem Alphabetisierungskurs eine Frau, die hat immer für die Kinder zum Geburtstag Schwarzwälderkirschtorte gekauft und konnte nicht lesen, was da drin ist. Sie wusste natürlich nicht, dass da Alkohol drin ist."

In den ersten drei Jahren in Deutschland war Azzouzia Taalaoui im Alltag auf ihren Mann angewiesen. Er hat für sie und ihre beiden Kinder alles geregelt. Doch tagsüber, wenn ihr Mann arbeiten musste, fühlte sie sich oft allein. "Wenn man richtig lernen will, kann man auch lernen. Aber es ist ein bisschen schwierig", findet Azzouzia Taalaoui. Als Erwachsener lesen und schreiben zu lernen, das sei eine echte Herausforderung, betont auch Elisabeth Schlüter, die zuständige Programmbereichsleiterin an der Volkshochschule Herne.

Stigma Analphabetismus

Teilnehmer sitzen an Tischen in Alphabetisierungskurs für Migranten (Foto: DW)
Es gibt mehr Frauen als Männer in den KursenBild: DW

Zusammen mit Azzouzia Taalaoui besuchen Migranten den Kurs, die zwar lesen und schreiben können, aber eben nicht in lateinischer Schrift. Die Kursteilnehmer, die noch nie lesen und schreiben gelernt haben, konnten oft aus finanziellen oder kulturellen Gründen nicht die Schule besuchen. Das sei in ihren Herkunftsländern auch nicht so ungewöhnlich, weiß Schlüter. In Deutschland sei das allerdings anders, weil hier Schulpflicht bestehe: "Dass die Betroffenen nicht nur nicht Deutsch sprechen können, sondern dass sie auch nicht lesen und schreiben können, das macht sie zu Menschen zweiter Klasse."

Es sei manchmal recht schwer, die Betroffenen, von denen die Frauen deutlich in der Überzahl sind, mit dem Lernangebot zu erreichen, erzählt Schlüter. Deshalb hat der Bundesverband für Alphabetisierung und Grundbildung eine anonyme Beratungsnummer (++49-251-533344) eingerichtet. Die Beratung richtet sich allerdings auch an Deutsche, die an einem Alphabetisierungskurs teilnehmen möchten.

Azzouzia Taalaoui merkt immer wieder kleine Fortschritte. Sie kann mittlerweile selber lesen, mit welchem Bus sie zum Alphabetisierungskurs fahren muss. Doch vor allem eines motiviert sie: "Dann kann ich später meinen Kindern helfen, wenn sie zur Schule gehen."

Autorin: Sonja Gillert

Redaktion: Kay-Alexander Scholz