Deutschland stellt Zehntausende Visa für Erwerbszwecke aus
28. Juli 2024Das Auswärtige Amt hat im ersten Halbjahr dieses Jahres mehr als 80.000 Visa für Menschen ausgestellt, die in Deutschland arbeiten wollen. Etwa die Hälfte von ihnen - gut 40.000 - sind Fachkräfte, wie die Deutsche Presse-Agentur (dpa) aus dem Ministerium erfuhr. Zum Vergleich: Im Vorjahreszeitraum wurden rund 37.000 Visa an Fachkräfte erteilt. Im gesamten Jahr 2023 hatte das Auswärtige Amt den Angaben zufolge über 157.000 Visa zu Erwerbszwecken ausgestellt, davon gingen 79.000 Visa an Fachkräfte.
Punkte sammeln für die Chancenkarte
Die sogenannte Chancenkarte, die zum 1. Juni eingeführt wurde, hat noch keinen großen Einfluss auf die Zahl der Erwerbsmigranten. Bisher seien knapp 200 Visa nach dieser Rechtsgrundlage erteilt worden, hieß es aus dem Auswärtigen Amt. Voraussetzung für die Chancenkarte ist eine im Erwerbsland staatlich anerkannte, mindestens zweijährige Berufsausbildung oder ein entsprechender Hochschulabschluss sowie Sprachkenntnisse in Deutsch oder Englisch. Je nach Sprachniveau, Berufserfahrung, Alter und Deutschlandbezug bekommen Interessierte Punkte, die sie zum Erhalt der Chancenkarte berechtigen.
Auch für Qualifikationen in Engpassberufen gibt es Punkte. Wer genügend Punkte hat, kann nach Deutschland kommen und hat dann ein Jahr lang Zeit, sich einen festen Job zu suchen. Unter bestimmten Voraussetzungen ist eine einmalige Verlängerung um zwei Jahre möglich.
Arbeiten ohne vorherige Anerkennungsverfahren
Deutschland hat seit 2020 ein Fachkräfteeinwanderungsgesetz, um den Zuzug qualifizierter Arbeitskräfte zu fördern. Im November 2023 trat der erste Teil einer von der Regierungskoalition aus Sozialdemoraten, Grünen und Liberalen beschlossenen Reform dieses Gesetzes in Kraft. Er umfasste vor allem Erleichterungen bei der "Blauen Karte EU" sowie für anerkannte Fachkräfte. Seit März können Fachkräfte mit Abschluss und Berufserfahrung ohne vorheriges Anerkennungsverfahren einreisen und in Deutschland arbeiten. Sie müssen also noch keine in Deutschland anerkannte Ausbildung vorweisen, aber ein Arbeitsplatzangebot mit einem Bruttojahresgehalt von mindestens 40.770 Euro - bei Tarifbindung des Arbeitgebers genügt eine Entlohnung gemäß Tarifvertrag.
Ausgeweitet wurden zum 1. Juni überdies die Möglichkeiten für Arbeitskräfte aus den Westbalkanstaaten, für einen Job nach Deutschland zu kommen. Die Arbeitnehmerfreizügigkeit gibt Bürgerinnen und Bürgern aus EU-Staaten das Recht, ihren Arbeitsplatz innerhalb der Europäischen Union frei zu wählen. Wie viele Menschen aus Staaten, die nicht zur EU gehören, zum Arbeiten nach Deutschland kommen, hängt auch davon ab, wie aufwendig die Beantragung eines Visums für sie ist und wie lange Antragsteller bei einer deutschen Auslandsvertretung auf einen Termin warten müssen. Aus dem Auswärtigen Amt hieß es dazu, Visa für Fachkräfte würden vorrangig bearbeitet. Bis zum 1. Januar 2025 solle das nationale Visumverfahren digitalisiert sein.
Ein Plädoyer für die Willkommenskultur
Klar ist: Der Mangel an Fachkräften gilt als einer der größten wirtschaftlichen Risiken in Deutschland. Spitzenverbände der Wirtschaft halten angesichts des Fachkräftemangels in Deutschland eine "Willkommenskultur" für notwendig. Der Präsident der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK), Peter Adrian, sagte der dpa: "Die Botschaft muss lauten: Wir freuen uns, euch hier in Deutschland begrüßen zu können. Und dafür gibt es sehr viele Ansätze. Das fängt bei der Visa-Erteilung an, wenn jemand nach Deutschland möchte, und hört bei der Bereitstellung von Wohnung und Kinderbetreuung auf. Wir haben hier in vielen Bereichen Defizite."
Adrian ergänzte: Das neue Fachkräfteeinwanderungsgesetz sei grundsätzlich positiv zu bewerten. "Es ist aber zu kompliziert. In der praktischen Anwendung hinken wir hinterher. Ich glaube nicht, dass man mit dieser Variante viele Fachkräfte zu uns locken kann."
"We want you!"
Auch der Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI), Siegfried Russwurm, sieht Nachbesserungsbedarf bei der Umsetzung des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes. "Die Aufgaben fangen bei den Botschaften und Konsulaten an. Jeder kennt das amerikanische Plakat 'We want you!'. So müssen wir auch denken und handeln. Diese Willkommenskultur muss sich bis zur kommunalen Ausländerbehörde in der Stadt oder im Landratsamt durchziehen."
Das müsse auch praktische Fragen einschließen, so der BDI-Chef. "Mein Lieblingsbeispiel: Kann ich in meinem Landratsamt ein Auto zulassen, wenn ich nicht Deutsch spreche? Gibt es jemanden, der diesen Standardprozess auf Englisch abwickelt? Das sind Banalitäten. Aber die helfen Menschen unheimlich, die in einem anderen Land anfangen zu arbeiten, vielleicht einen ersten Sprachkurs hatten, aber trotzdem noch unsicher sind. In dieser ganzen Kette ist noch viel zu tun."
haz/wa (dpa)