Deutschland und die Kinderehe
4. September 2016Ein 14-jähriges Mädchen heiratete in Syrien ihren 21-jährigen Cousin. Gemeinsam flohen sie aus dem kriegsgebeutelten Land und kamen schließlich in Aschaffenburg an. Das Jugendamt weigerte sich, die Ehe anzuerkennen und nahm das Mädchen in Obhut - aus Gründen des Kindeswohls, wie es hieß. Der Ehemann zog vor das Familiengericht und unterlag in erster Instanz.
Doch das Oberlandesgericht (OLG) Bamberg hob die Entscheidung in einem aufsehenerregenden Urteil auf: Die Bamberger Richter hatten sich auf den in Deutschland geltenden Grundsatz berufen, dass im Ausland geschlossene Ehen nach den Gesetzen der Herkunftsländer zu beurteilen sind und die Ehe damit legitimiert. Die Stadt Aschaffenburg legte deshalb Beschwerde gegen das Bamberger Kinderehe-Urteil ein. Nun soll der Bundesgerichtshof entscheiden.
Das Thema Kinderehen, das sonst so weit weg scheint, ist plötzlich wieder präsent. Dabei gibt es in Deutschland schon länger Ehen von Minderjährigen mit einer Ausnahmegenehmigung für jeden Einzelfall. Viele Vertreter von Menschenrechtsorganisationen, aber auch Juristen und Politiker, sind der Meinung, dass Kinderehen grundsätzlich verboten sein müssten. "Ein 11-, 13- oder 15-jähriges Mädchen gehört nicht in eine Ehe, sondern in eine Schule", heißt es in einer Beschlussvorlage der CDU/CSU. Da die Forderungen sich mehren, konsequenter gegen Kinderehen unter Flüchtlingen vorzugehen, hat Bundesjustizminister Heiko Maas eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe eingesetzt, die nach einer einheitlichen Regelung suchen soll.
Womit genau soll sich die Arbeitsgruppe befassen?
Die Hauptfrage, der die Mitglieder der Arbeitsgruppe nachgehen sollen, lautet: Sollen im Ausland geschlossene Ehen in Deutschland anerkannt werden? Bei der Registrierung der Flüchtlinge haben verschiedene Behörden zahlreiche Ehen von unter 18-Jährigen festgestellt. Erhebungen der Länder zufolge soll es bundesweit etwa 1000 Kinderehen von Flüchtlingen geben, über die Hälfte davon in Bayern. In den meisten Fällen sind die Mädchen erst die 16 oder 17 Jahre alt. Konkrete Angaben, wie alt die Ehemänner sind oder wann die Ehen geschlossen wurden, sind kaum zu finden. Da die Angaben zum Familienstand nicht verpflichtend sind, sind die Statistiken nicht verlässlich. Die Dunkelziffer könnte also auch höher sein.
Wie ist die Gesetzeslage in Deutschland?
Für Ehen in Deutschland gilt, dass die Ehemündigkeit im Alter von 18 Jahren beginnt. Eine Ehe soll eigentlich laut Bürgerlichem Gesetzbuch nicht vorher eingegangen werden, aber das Familiengericht kann eine Ausnahme erteilen, wenn ein Ehepartner volljährig und der andere mindestens 16 Jahre alt ist. So kommt es auch in Deutschland zu Kinderehen.
Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig (SPD) sprach sich dagegen aus. Kinder hätten auch laut Kinderrechtskonvention "das Recht auf Spiel, Bildung und Gesundheit - kurz, auf ein unbeschwertes Aufwachsen". Ehen unter Zwang "dürfen wir nicht akzeptieren".
Bislang gilt, dass rechtmäßig geschlossene Ehen von Ausländern, die im Ausland geschlossen wurden, anerkannt werden müssen.
Welche Änderungen werden diskutiert?
Während Bayerns Justizminister Winfried Bausback (CSU) fordert, die im Ausland geschlossenen Ehen mit unter 16-jährigen Mädchen künftig "nicht anzuerkennen", spricht NRW-Justizminister Thomas Kutschaty (SPD) davon, dass in Erwägung gezogen werden müsse, zukünftig nur noch solche Ehen anzuerkennen, bei denen beide Ehegatten volljährig sind.
Das dürfte besonders den Kinderschutzexperten gefallen. Denn sowohl die Deutsche Kinderhilfe als auch die Frauenrechtsorganisation Terre de Femmes fordern, dass es in Deutschland keine Ausnahmen mehr geben dürfe, wenn es um Kinderehen geht: "Wir fordern, dass diese Ausnahmeregelung gestrichen wird und wir fordern, dass das Mindestheiratsalter von 18 Jahren durchgesetzt wird, ohne Ausnahme", sagt Myria Böhmecke von der Organisation Terre de Femmes. "Wir fordern keine Zwangsscheidung", erläutert sie, "sondern eine Nicht-Anerkennung der Ehe." Ein minderjähriges, verheiratetes Mädchen würde als unbegleitete Person gelten. "So hat man mehr Möglichkeiten, sie zu schützen."
Der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Kinderhilfe, Rainer Becker, weist aber darauf hin, dass es dennoch wichtig sei, auch in Zukunft Einzelfälle bei Kinderehen, die im Ausland geschlossen wurden, zu betrachten. "Ich halte die Arbeitsgruppe, die der Bundesjustizminister eingerichtet hat, für wichtig." Man müsse sich mit dem Thema auseinandersetzen und sich bekennen. "Aber einfach zu sagen, 'wir erkennen im Ausland geschlossene Ehen in Deutschland generell nicht an', wird dem Thema nicht gerecht." Denn nicht alle dieser Ehen seien zwangsweise geschlossen worden, sagte er im Gespräch mit der DW.
Wie gehen die Behörden mit Kinderehen bei Flüchtlingen um?
Da in Deutschland auch Ehen von 16-Jährigen grundsätzlich möglich sind, werden meist auch Kinderehen von 16-jährigen Flüchtlingen anerkannt. Bisher wurden nur Ehen mit Kindern, die jünger als 14 Jahre sind, nicht anerkannt. Bei Ehen, die mit 14-Jährigen oder älteren Minderjährigen geschlossen worden sind, wird in Deutschland eine Einzelfallentscheidung getroffen.
Was sind die Ursachen für Kinderehen im Ausland?
In vielen Ländern, aus denen die Flüchtlinge kommen, sind Kinderehen zwar nicht erlaubt, aber sie werden gebilligt. Die Ehe an sich hat einen hohen Stellenwert. Und nicht jede Kinderehe ist eine Zwangsehe. Auch in Syrien oder in Afghanistan gilt eigentlich das Mindestalter von 16 Jahren. Bei Jungen gilt in der Regel ein etwas höheres Mindestalter. Aber auch hier sind Ausnahmen möglich.
Nach Angaben des Kinderhilfswerks UNICEF sind es besonders die Mädchen, die früh verheiratet werden oder selbst früh heiraten wollen, bei Jungen kommt es auch vor, aber seltener. Oft spielen wirtschaftliche Gründe eine Rolle: Mädchen gelten als Ballast und nicht als zukünftige Ernährer, schreibt UNICEF. Für viele Familien sei das Brautgeld wichtig.
Besonders viele Kinderehen würden derzeit allerdings in Flüchtlingslagern im Libanon, Jordanien und der Türkei geschlossen, sagt Myria Böhmecke von Terre de Femmes. Da dort große wirtschaftliche Not herrsche, versuchten Eltern ihre Töchter abzusichern. Aber, sagt Böhmecke: "Die Familien haben auch Angst vor sexuellen Übergriffen auf ihre Töchter. Daher verheiraten sie sie oft früh." So sei die Tochter geschützt, und nicht zuletzt auch die Familienehre, weil die Jungfräulichkeit einen hohen Wert hat in patriarchalischen Strukturen."