Kanzlerin auf schwieriger Mission
18. Oktober 2015Die Ankündigung von Regierungssprecher Steffen Seibert kam vor einigen Tagen überraschend. Bundeskanzlerin Angela Merkel reise nach Ankara, um dort mit Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan und Ministerpräsident Ahmet Davutoglu zusammenzutreffen - eine Woche nach dem beispiellosen Attentat in der türkischen Hauptstadt. Im Mittelpunkt der Gespräche: Der gemeinsame Kampf gegen den internationalen Terrorismus, der Syrien-Konflikt und die Herausforderung, der sich Europa angesichts der Ankunft Hunderttausender Flüchtlinge gegenüber sieht.
Der Besuch Merkels zeigt, welche Priorität die Türkei in der Bewältigung der steigenden Flüchtlingszahlen und der Bekämpfung der Fluchtursachen einnimmt - für Deutschland und für die EU. Dass die Kanzlerin gerade jetzt nach Ankara reist, ist für die Politikwissenschaftlerin Gülistan Gürbey Ausdruck realpolitischer Abwägungen.
"Die Frage ist jetzt nur, inwieweit tatsächlich Paketvereinbarungen erreicht werden können, wenn doch die Ziele so unterschiedlich sind", sagte Gürbey der Deutschen Welle (DW). Denn das Verhältnis zwischen Deutschland und der Türkei ist seit Langem von Misstrauen und divergierenden außenpolitischen Strategien geprägt.
"Freundschaftlich und belastbar"
Dabei besteht zwischen den beiden Ländern eigentlich eine enge, historisch gewachsene Beziehung, die das Auswärtige Amt als "freundschaftlich, vielschichtig und belastbar" charakterisiert. Deutschland ist mit einem Handelsvolumen von 32,6 Milliarden Euro der wichtigste Handelspartner der Türkei, die Türkei als NATO-Partner und Ansprechpartner der EU wiederum für Deutschland wichtiger Verbündeter in geostrategischen Fragen. In der Bundesrepublik leben fast drei Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln, wodurch die Zivilgesellschaften stark vernetzt sind und so etwas wie ein deutsch-türkischer transnationaler Raum entstanden ist.
Vor gut 15 Jahren stellte Europa der Türkei gar die Mitgliedschaft in der EU in Aussicht. Dieser deutliche Schritt der Annäherung fand unter deutscher EU-Ratspräsidentschaft statt. Was zunächst zu einem beispiellosen Reformprozess in der Türkei und der europäischen Freude über Erdogans Eifer für die gemeinsame Sache führte, wurde für das türkisch-deutsche Verhältnis nur wenige Jahre später zur Belastungsprobe. Eine Dynamik, die der Präsident der deutsch-türkischen Gesellschaft, Gerd Andres, im Gespräch mit der DW so erklärt: "Von türkischer Seite haben Erdogan und die AKP lange die Annäherung an Europa betrieben. Ein Teil der europäischen Partner blockierte das. Das fängt bei Zypern an und geht bei Frankreich weiter. Dann wurden große Erwartungen an Deutschland formuliert, die Deutschland aber so nicht erfüllen konnte oder wollte." Das habe zu Frustration auf beiden Seiten geführt.
Partner statt Freunde
Auf Frustration folgte Entfremdung. Mitte der 2000er Jahre sprach die Union nur noch von einer "privilegierten Partnerschaft", die man der Türkei in Aussicht stellen könne, im November 2012 formulierte Merkel dann klar ihre Ablehnung: "Wir wollen die Vollmitgliedschaft der Türkei nicht."
Irgendwann hatte es den Anschein, als wolle auch die Türkei nicht mehr. Erdogans Regierung verfolgte mehr und mehr eine Politik, die mit europäischen Grundwerten nichts mehr zu tun hatte, in der Presse-, Meinungsfreiheit und Menschenrechte massiv verletzt wurden. "Ab 2009, 2010 hat die AKP unter der Führung von Erdogan doch einen ziemlich anderen Kurs eingeschlagen. Man merkte Veränderungen hinsichtlich des Justizsystems, es gab innenpolitische Auseinandersetzungen, Auseinandersetzungen mit der Gülen-Bewegung, mit kritischen Journalisten und Verfolgung von jungen Studenten", erklärte Gerd Andres.
Für die Reaktion seiner Regierung auf die Demonstrationen im Gezi-Park 2013 wurde Erdogan weltweit angeklagt. Er regierte mit einer Abwehrhaltung seinen Kritikern gegenüber und flüchtete sich in provokante Rhetorik, von der er auch die europäischen Partner nicht ausschloss. Die Protestwelle, die sein Land erfasst hatte, habe Erdogan als Provokation von Außen dargestellt, als Versuch, die Türkei von innen heraus zu schwächen, um sie als Regionalmacht in Frage zu stellen – so die Analyse Gülistan Gürbeys.
Balanceakte
Ihren Höhepunkt fanden die Divergenzen in den türkisch-deutschen Beziehungen im Syrien-Konflikt. Mitten in der politischen Gemengelage dieses Bürgerkriegs ist Deutschland in eine absurde Situation geraten: Einerseits schützten bis vor kurzem deutsche Patriot-Raketen die Türkei vor syrischen Luftangriffen. Andererseits bilden deutsche Soldaten im Nordirak Peschmerga-Milizen im Kampf gegen den "Islamischen Staat" (IS) aus. Es sind nicht diese Kurden, deren Stellungen die Türkei seit einigen Monaten bombardiert, sondern die der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK – und dennoch mutet dieser Gegensatz seltsam an. Ganz zu schweigen von den Vorwürfen, Ankara habe in Syrien zunächst indirekt den IS unterstützt, mit der Absicht, Machthaber Baschar al-Assad zu stürzen. Damit habe die Türkei auch die Zielsetzungen der Bundesrepublik in Syrien torpediert, meint Politikwissenschaftlerin Gülistan Gürbey.
An diesem Sonntag hat die Kanzlerin in der Türkei einen Drahtseilakt zu bewerkstelligen. Die Entwicklungen der letzten Jahre, die Gerd Andres zufolge ein "Klima der Sprachlosigkeit" erzeugt haben, werden es der Kanzlerin schwer machen, verloren gegangenes Vertrauen wieder aufzubauen. Gleichzeitig bleibt ihr nichts anderes übrig, haben doch sowohl die politischen Akteure der Europäischen Union als auch die der Bundesrepublik in den vergangenen Tagen wiederholt betont, dass die Türkei eine Schlüsselrolle in der Flüchtlingskrise einnimmt.
"Diese Zielsetzung übersteigt alle anderen Bedenken, die zu Recht angebracht werden", prophezeit Gülistan Gürbey. Merkel handele nach dem Primat der Realpolitik. Das gesteht die Kanzlerin sogar offen ein: "Außenpolitik ist immer ein Spannungsfeld von Werten, denen wir uns verpflichtet fühlen, und Interessen, die wir haben." Welche Werte am Ende gegen welche Interessen aufgewogen werden, wird sich bei den Gesprächen in Ankara zeigen.