Deutschland verliert wirtschaftliche Potenz
5. April 2023Der Winter war mild, der Energieverbrauch geringer als befürchtet. Die erwartete Rezession bleibt absehbar aus, statt dessen gibt esein kleines Konjukturplus von 0,3 Prozent. "Der konjunkturelle Rückschlag im Winterhalbjahr 2022/2023 dürfte glimpflicher ausgefallen sein als im Herbst befürchtet", korrigiert Timo Wollmershäuser, Professor am Ifo Institut für Wirtschaftsforschung an der Universität München, die Prognose vom vergangenen Herbst.
Das Ifo-Institut gehört zur Gruppe vier führender deutscher Wirtschaftsforschungsinstitute, die zweimal pro Jahr im Auftrag der Bundesregierung ein Gutachten erstellen. In diesem Frühjahr ist auch ein Forschungsinstitut aus Österreich mit an Bord. Die Zahlen, die sie jeweils errechnen, sind für die Steuerschätzung und die Haushaltsaufstellung der Bundesregierung wichtig.
Mit einem blauen Auge davongekommen
Auch wenn die Auftragsbücher der Unternehmen voll waren, die Rahmenbedingungen machten es nicht leicht. "Anhaltende Lieferschwierigkeiten bei Vorprodukten, starke Turbulenzen mit extremen Preisspitzen an den Energiemärkten sowie ein Mangel an Arbeitskräften auch wegen der außergewöhnlich hohen Krankenstände reduzierten die Produktionsmöglichkeiten der deutschen Wirtschaft und verhinderten einen kräftigeren Anstieg des Inlandsproduktes", zählt Wollmershäuser auf.
Für 2024 gehen die Institute von einem Wachstum von 1,5 Prozent aus. Sicher ist das nicht, denn geopolitische Spannungen und kalte Temperaturen könnten jederzeit wieder Preissprünge auslösen. "Die Gefahr einer Mangellage im kommenden Winter besteht immer noch", so Wollmershäuser. Wenig rosig beurteilt er auch die mittelfristigen Aussichten. "Nach unseren Schätzungen wird die durchschnittliche Wachstumsrate der deutschen Wirtschaft gegen Ende des Jahrzehnts nur noch bei etwa einem halben Prozent liegen."
Ende des Wachstums
Damit dürfte sich manifestieren, dass die fetten Jahre in Deutschland absehbar vorbei sind. Das hat weniger mit den Folgen der Corona-Pandemie und des Ukraine-Kriegs zu tun. Die alternde Gesellschaft, zu wenige Arbeitskräfte und vor allem der Abschied von Gas, Öl und Kohle, der zunächst höhere Energiepreise nach sich zieht, setzen Deutschland zu.
Billige fossile Energie war lange die Basis für das erfolgreiche deutsche Geschäftsmodell. Nun ist mit einem Schlag alles anders. Kein Gas mehr aus Russland, stattdessen teure Ersatzlieferungen und die Erkenntnis, dass der Umstieg auf klimafreundliche Energie allein schon wegen der steigenden Erderwärmung deutlich beschleunigt werden muss.
Weniger Pferde und weniger Futter
Stefan Kooths, Professor am Kiel Institut für Weltwirtschaft, bemüht ein leicht verständliches Sprachbild, um einen komplexen Sachverhalt greifbar zu machen: "Die Wachstumsaussichten für die deutsche Wirtschaft sind zu vergleichen mit dem Tempo einer Pferdekutsche, bei der die Zahl der Zugtiere zurückgeht, gleichzeitig weniger Kraftfutter verfüttert werden soll, aber mehr Passagiere mitfahren wollen."
Es komme in der jetzigen Situation darauf an, "die Räder zu ölen und Ballast abzuwerfen". Das könne etwa durch eine Senkung "der hohen Abgabenlast" geschehen oder durchqualifizierte Zuwanderung, erklärt Kooths. Staatliche Konjunkturprogramme hingegen würden nicht helfen, sondern seien - um im Sprachbild zu bleiben - "nichts anderes als Peitschenhiebe", die nur kurzfristig antreiben würden.
Subventionen bremsen nur
Die Diskussion darüber, Industriestrom billiger zu machen, halten die Wissenschaftler für verfehlt. Sicherheit und Kosten der Energieversorgung seien zwar wichtige Standortfaktoren, die Energiewende sei ohne steuernden "Preismechanismus" aber nicht zu schaffen. "Das Einhalten der Klimaziele erfordert enorme Anstrengungen bei der Energieeffizienz und die Erfahrungen im vergangenen Jahr haben gezeigt, dass der Preis für Energie hierbei ein wirklich geeignetes Instrument sein kann, um diese Effizienz zu steigern", so Timo Wollmershäuser.
Dem von der Politik oft bemühten Versprechen, der Umbau der Wirtschaft in Richtung Klimaneutralität werde der Wirtschaft einen zusätzlichen Schub geben, erteilen die Wirtschaftswissenschaftler eine klare Absage. Produktionskapazitäten in der Wirtschaft würden lediglich umgebaut. "Es gibt keine doppelte Dividende - mehr Klimaschutz und obendrauf noch ein Wachstumswunder. Das ist leider eine Illusion", urteilt Stefan Kooths.
Preise bleiben hoch
Umso mehr kommt es darauf an, weitere Rahmenbedingungen zu verbessern, wozu besonders auch der Rückgang der Inflation gehört. Entspannung erwarten die Institute erst im kommenden Jahr. Dann soll die Teuerungsrate auf 2,4 Prozent fallen, nach sechs Prozent in diesem Jahr. Das werde den privaten Konsum ab der zweiten Jahreshälfte anschieben, weil dann auch die Reallöhne wieder zulegen sollten.
Als Konjunkturstütze sehen die Institute die Industrie, die von nachlassenden Lieferengpässen und der günstigeren Energie profitieren dürfte. Die Bauwirtschaft werde dagegen bremsen. "Besonders im Wohnungsbau wird die Nachfrage schwach bleiben, auch weil die Europäische Zentralbank ihren geldpolitischen Kurs weiter straffen wird und damit die Finanzierungskosten weiter steigen werden", so Wollmershäuser.
Rosige Zeiten für Arbeitnehmer
Gute Nachrichten halten die Institute für den Arbeitsmarkt parat. Die Zahl der Erwerbstätigen dürfte weiter zunehmen, von rund 45,6 Millionen im vergangenen Jahr auf rund 46,0 Millionen im kommenden. Die Zahl der Arbeitslosen dürfte allerdings in diesem Jahr vorübergehend auf knapp 2,5 Millionen zulegen, da die ukrainischen Flüchtlinge nicht sofort auf dem Arbeitsmarkt Fuß fassen würden. 2024 dürfte die Arbeitslosigkeit dann wieder auf gut 2,4 Millionen sinken.
Grundsätzlich sehen die Wissenschaftler für Arbeitsnehmer rosige Zeiten voraus, da sie in den kommenden Jahren bei den Tarifverhandlungen "am längeren Hebel" sitzen dürften. "Deshalb werden wir im Zweifel kräftige Lohnzuwächse sehen", sagt Stefan Kooths. Unternehmen müssten in Zeiten von Fachkräftemangel und demografischem Wandel "viel stärker auf die Wünsche der Arbeitskräfte eingehen, um attraktiv zu bleiben als Arbeitgeber".
Risikofaktor Banken
Die Lage der Weltwirtschaft wird im Frühjahrsgutachten als "weiterhin schwach" bezeichnet. Wesentlich dämpfend wirke die "im historischen Vergleich ungewöhnliche" Anhebung der Zinsen, die absehbar "nicht zu Ende" sei. "Wir rechnen mit weiteren zumindest kleineren Zinsschritten und das bremst die Investitionen", so Stefan Ederer vom Österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung (WIFO).
Ein Risiko für die Weltwirtschaft gehe derzeit vor allem vom Finanzsektor aus. "Die Zinsanstiege führen dazu, dass Vermögenspreise nachgeben und wenn sich Banken nicht ausreichend dagegen abgesichert haben, kann es durchaus zu einem Vertrauensverlust kommen."