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Deutschland: Wieder der "kranke Mann" Europas?

31. Juli 2023

Die deutsche Volkswirtschaft tritt auf der Stelle - und Besserung ist nicht in Sicht. Die multiplen Krisen der letzten Jahre machen die Schwächen des Geschäftsmodells sichtbar.

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Dunkle Wolken über dem Hamburger Hafen
Bild: Joern Pollex/Getty Images

Es war kurz vor der Jahrtausendwende. Da kam das britische Wirtschaftsmagazin The Economist zu einem vernichtenden Urteil über die deutsche Volkswirtschaft. Deutschland sei The sick man oft the Euro - der kranke Mann Europas. Es wirkte damals wie ein Weckruf auch für die deutsche Politik, die sich, noch immer berauscht von wirtschaftlich starken Jahren nach der Wiedervereinigung, jeglichen Reformen versagt hatte. Die wurden schließlich von der Regierung des damaligen Kanzlers Gerhard Schröder (SPD) nachgeholt, zum Beispiel mit der unter dem Namen Hartz IV bekannt gewordenen Reform des Arbeitsmarkts.

14 Jahre später war die Wende zum Besseren amtlich. Einen Aufsatz zur Lage der deutschen Wirtschaft überschrieb eine Gruppe von Ökonomen aus Berlin und London mit dem Titel:  From sick man of Europe to an economic superstar. 

Düstere Lage, düstere Aussichten

Aber jetzt macht erneut das Wort vom "kranken Mann Europas" die Runde. Die deutsche Wirtschaft kommt nicht auf die Beine. Zwei Quartale in Folge war die Wirtschaftsleistung geschrumpft, was Ökonomen als "technische Rezession" bezeichnen. Im abgelaufenen Quartal nun stagnierte das Bruttoinlandsprodukt auf dem Niveau des Vorquartals, was aber nur ein schwacher Lichtblick gewesen sein dürfte. Denn alle wichtigen Indikatoren zeigen nach unten. Allen voran der wichtige Geschäftsklimaindex des Münchner Ifo-Instituts. Der sank im Juli den dritten Monat in Folge, wobei die 9000 befragten Manager sowohl die aktuelle Lage ihrer Unternehmen als auch die Aussichten für das nächste halbe Jahr schlechter bewerteten. "Die Lage der deutschen Wirtschaft verdüstert sich", - so lautet denn auch das Fazit von Ifo-Chef Clemens Fuest.

Steamcracker bei BASF in Ludwigshafen
Chemieanlage bei BASF in Ludwigshafen: Die Chemiebranche, die als Frühindikator für die Konjunktur gilt, rechnet mit einem Minus von 14 Prozent bei den Umsätzen in diesem Jahr. Bild: Ronald Wittek/dpa/picture alliance

Das Bruttoinlandsprodukt werde im laufenden dritten Quartal voraussichtlich wieder sinken, sind sich nicht nur die Ifo-Forscher sicher. Auch für Commerzbank-Chefvolkswirt Jörg Krämer ist die Sache klar: "Besserung ist leider nicht in Sicht", so Krämer gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters. "Die weltweiten Zinserhöhungen fordern ihren Tribut, zumal die deutschen Unternehmen wegen der erodierten Standortqualität ohnehin verunsichert sind." Krämers Kollege Alexander Krüger von der Hauck Aufhäuser Lampe Privatbank sieht das ähnlich: "Problematisch ist, dass die Wirtschaftsleistung weiterhin nur in etwa auf ihrem Vor-Corona-Hoch liegt." Andere Länder lägen mitunter deutlich darüber, auch im Euroraum. "Deutschland sitzt eindeutig im Bremserhäuschen des europäischen Konjunkturzuges", urteilt Jens-Oliver Niklasch von der Landesbank Baden-Württemberg (LBBW).

Industrie - kein Prunkstück mehr

Und nicht nur im Euroraum, auch im Vergleich mit anderen Industrienationen, schneidet Deutschland außerordentlich schlecht ab - und wird nach Einschätzung des Internationalen Währungsfonds (IWF) in diesem Jahr das einzige der großen Länder mit einer schrumpfenden Wirtschaftsleistung sein. Dabei ist es vor allem das Prunkstück Deutschlands, dass die meisten Sorgen bereitet - die Industrie. Die hat hierzulande mit rund 24 Prozent einen vergleichsweise großen Anteil an der Bruttowertschöpfung und leidet seit längerem unter der weltweit schwachen Konjunktur. Die Zurückhaltung ausländischer Kunden verspüren vor allem die stark vom Export anhängigen Branchen wie Maschinenbau und Autoindustrie. Der wichtige chinesische Markt erholt sich nach der Corona-Pandemie nicht mit der erhofften Dynamik, weil auch die Chinesen ihr Geld lieber zusammenhalten.

Produktion des Elektroautos ID.3 im VW-Werk Zwickau (Sachsen)
Auch die Autoindustrie - eine der Vorzeigebranchen Deutschlands - schwächelt: Volkswagen zum Beispiel musste seine Absatzprognose kürzlich wieder einkassieren. Bild: Hendrik Schmidt/dpa/picture alliance

Noch retten sich die Unternehmen des sogenannten verarbeitenden Gewerbes mit dem hohen Auftragspolster, dass nach Corona und durch die enormen Lieferkettenprobleme aufgelaufen war. Doch diese Aufträge dürften alsbald abgearbeitet sein - und neue Aufträge fließen spärlicher: Von März bis Mai etwa kamen etwas mehr als sechs Prozent weniger Aufträge herein als in den drei Monaten davor.

Eine ganze Reihe von Ursachen

Der Niedergang der deutschen Wirtschaft hat viele Ursachen. Eine davon ist die Geldpolitik der Notenbanken. Mit deutlichen Zinserhöhungen wollen die Währungshüter die Inflation eindämmen. Das verteuert Kredite für Firmen und Verbraucher. Das bremst die ebenfalls für Deutschland wichtige Bauwirtschaft aus und bremst ebenso die Investitionslust der Unternehmen. Doch dieses "Abwürgen" der Wirtschaftsdynamik ist ja der Sinn und Zweck von Zinserhöhungen. Aber andere Länder in der Eurozone, wie Frankreich und Spanien, müssen ja damit auch klarkommen - und kommen tatsächlich besser damit klar: "Unsere europäischen Nachbarn haben allesamt eine höhere konjunkturelle Dynamik", konstatiert denn auch Moritz Schularick, der neue Präsident des Kiel Institut für Weltwirtschaft (IfW).

So sind es eher strukturelle Probleme, die Deutschland ausbremsen. Das einst erfolgreiche Geschäftsmodell (billige - vor allem russische - Energie und günstige Vorleistungen importieren, veredeln und als hochwertige Güter teuer exportieren) funktioniert nicht mehr. Die multiplen Krisen der vergangenen Jahre (Corona, Lieferkettenprobleme, Russlands Krieg in der Ukraine und dessen Folgen) haben die Schwächen des Standorts Deutschland schonungslos offengelegt. Und die Liste ist noch länger: Energieintensive Unternehmen (davon gibt es nicht wenige) leiden unter den hohen Energiekosten. Diejenigen, die Produktion verlagert haben, kehren nicht zurück. Aber die teure Energie ist nur ein Problem.

Mutige Lösungen gefragt

Eine aktuelle Studie der DZ Bank sieht vor allem den deutschen Mittelstand - gemeinhin als das "Rückgrat der deutschen Wirtschaft" bezeichnet - in Gefahr. Die Autoren vermerken einen regelrechten Cocktail an Standort-Nachteilen: Abgesehen von den Energiepreisen werden der latente Fachkräftemangel genannt, aber auch eine überbordende Bürokratie, hohe Steuern und eine marode Infrastruktur inklusive lahmender Digitalisierung. Hinzu kommt eine immer älter werdende Bevölkerung. "Weiten Teilen unserer Wirtschaft fehlt die Zuversicht, dass sich Investitionen angesichts der hohen Kosten und teilweise sogar widersprüchlicher Regelungen am Standort Deutschland rechnen", sagte der Präsident der Deutschen Industrie- und Handelskammer Peter Adrian unlängst der Deutschen Presse-Agentur.

Maschinenbau in Deutschland - hier bei Mittelständler Dürr AG
Viele Mittelständler beklagen eine überbordende Bürokratie und zu hohe Energiekosten Bild: dpa/picture alliance

Einen möglichen Ausweg aus dem Dilemma skizziert IfW-Präsident Schularik in einem Beitrag auf der Webseite seines Instituts: "Wenn Deutschland nicht noch einmal zum 'kranken Mann Europas' werden will, muss es sich jetzt mutig den Wachstumsbranchen von morgen zuwenden, anstatt ängstlich mit Milliarden energieintensive Industrien von gestern zu konservieren."

Dazu gehöre auch, so Schularick weiter, die Defizite und verpassten Chancen des vergangenen Jahrzehnts jetzt schnell zu beseitigen: "Die mitunter bizarre Rückständigkeit in allen digitalen Bereichen, der starke Rückgang der staatlichen Kapazitäten und der öffentlichen Infrastruktur sowie das Fehlen einer sinnvollen Strategie zur Verbesserung des Wohnungsmangels und zur Steigerung der Zuwanderung, um den Auswirkungen der alternden Erwerbsbevölkerung zu begegnen."

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Henrik Böhme Wirtschaftsredakteur mit Blick auf Welthandel, Auto- und Finanzbranche@Henrik58