Deutschland will Holocaust-Archiv öffnen
19. April 2006Die Bundesregierung habe ihre datenschutzrechtlichen Bedenken aufgegeben, das Holocaust-Archiv im hessischen Bad Arolsen für die Forschung zu öffnen, sagte Bundesjustizministerin Brigitte Zypries (SPD) am Dienstag (20.4.2006) in Washington. Dabei werde es eine enge Zusammenarbeit mit dem Holocaust-Museum der USA geben. Grundlage des Archivs ist ein Abkommen von elf Staaten. Sie werde sich jetzt um dessen Revision bemühen, kündigte Zypries an. Dies sollte nicht länger als sechs Monate dauern. In allen elf an dem Archiv beteiligten Staaten sei der Datenschutz inzwischen genügend entwickelt, um die Forschung mit den Daten zu erlauben. Die Bestände waren bislang nur den unmittelbaren Angehörigen von Opfern zugänglich; Historiker hatten keinen Zutritt.
Sensible Persönlichkeitsdaten
Die Direktorin des Washingtoner Holocaust-Museums, Sara Bloomfield, sprach von einer Entscheidung von großer "moralischer und historischer Bedeutung". Mit Material über rund 17,5 Millionen KZ-Häftlinge, Zwangsarbeiter und andere NS-Opfer verfügt der Internationale Suchdienst (ITS) im hessischen Bad Arolsen über eine der weltweit größten Datensammlungen über den Holocaust. Die Bundesregierung hatte sich lange gegen die Öffnung für die Forschung gewehrt, da die Archive auch sensible Persönlichkeitsdaten wie etwa Angaben zu Vorstrafen und sexueller Orientierung enthalten.
Damit Historiker die Daten auswerten können, müssen zunächst die Bonner Verträge von 1955 geändert werden, die die rechtliche Grundlage des ITS bilden. Für eine entsprechende Vereinbarung werde sich die Bundesregierung beim nächsten Treffen der ITS-Vertragstaaten am 17. Mai in Luxemburg einsetzen, kündigte Zypries an. Wenn diese politische Einigung erzielt werde, solle das Material schon vor der förmlichen Änderung und Ratifizierung des Vertrages so bearbeitet werden, dass es anschließend rasch von Historikern genutzt werden könne.
Bedenken auch in Italien
Nach Angaben des Chefhistorikers des Washingtoner Holocaust-Museums, Paul Shapiro, ist bereits jetzt etwa die Hälfte der Daten digitalisiert. Bloomfield sagte voraus, das Archiv werde eine "enorme historische Bedeutung erlangen" und für die Forscher mehrerer Generationen "einen wunderbaren Segen" darstellen.
Die von den Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg in der hessischen Kleinstadt deponierte Datensammlung war in den vergangenen Jahrzehnten vom Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) für die Suche nach NS-Opfern und Vermissten genutzt worden. Das Archiv wird vom IKRK verwaltet und von der Bundesregierung finanziert. Eine Grundsatzeinigung über die Öffnung des Archivs war zwar schon vor acht Jahren erzielt worden; seither hatte aber neben Deutschland vor allem auch Italien datenschutzrechtliche Bedenken vorgebracht.
Belastung der Beziehungen
Die geplante Freigabe der Daten wurde von Vertretern der jüdischen Gemeinde in den USA begrüßt. Der Vizechef der Conference on Jewish Material Claims Against Germany, Gideon Taylor, erklärte, die Forschung mit diesen Daten schon in naher Zukunft werde es ermöglichen, die dort enthaltenen Informationen noch mit den persönlichen Berichten von Überlebenden der Nazi-Zeit anzureichern.
Der Streit um das Holocaust-Archiv drohte, zu einer Belastung für die deutsch-amerikanischen Beziehungen zu werden. Historiker in den USA wollen das Archiv schon seit vielen Jahren nutzen. Shapiro hatte vor wenigen Wochen in einem Interview des Hessischen Rundfunks gewarnt, die Vereinigten Staaten würden es nicht zulassen, "dass weitere Holocaust-Überlebende sterben mit der Angst, dass ihr Schicksal in Vergessenheit gerät und dass ihre Namen unter den Teppich gekehrt werden". (stu)