Deutsch sprechen gegen die Große Mauer
12. Oktober 2018Konfuzius hatte zu seiner Zeit 72 Jünger. Ich weiß nicht, ob das der Grund war, dass die Pekinger Fremdsprachenschule in meinem Jahrgang ausgerechnet 72 Schüler aufgenommen hat. Die Chinesen haben ja einen Sinn für Symbolik. Aber es kann auch Zufall gewesen sein. Da wir vier Klassen (Englisch, Französisch, Deutsch und Japanisch) waren, musste die Gesamtzahl durch vier teilbar sein. Und das war die Zahl 72. Jede Klasse hatte also 18 Schüler. In dieser kleinen Gruppe wurde die jeweilige Fremdsprache unterrichtet. Alle anderen Fächer in einer größeren Formation: Die englische und die französische Gruppe bildeten eine gemeinsame Klasse, die von uns scherzhaft als die Alliiertenklasse bezeichnet wurde; das Pendant waren natürlich wir, die deutsche-japanische Klasse, die sogenannte Achsenmächte-Klasse.
Natürlich nahm der Fremdsprachen-Unterricht eine Sonderstellung ein. Von den 34 Stunden pro Woche entfielen rund zehn auf die in unserem Falle deutsche Sprache. Mit Diaprojektor und Kassettenrekorder tauchten wir in eine andere Welt ein. "Hier ist Deutschland. Hier ist Franken. Franken ist in Süddeutschland. Hier ist Cadolzburg. Cadolzburg ist ein Dorf." So beginnt für Millionen und Abermillionen Menschen weltweit ihr erstes Rendezvous mit der deutschen Sprache. Cadolzburg im mittelfränkischen Fürth ist somit der allererste Ortsname, mit dem viele Deutschlernende auf der Welt konfrontiert werden. Ob die Dorfbewohner von der Bedeutung ihres Wohnortes wissen?
Namen sind weder Schall noch Rauch
Nach ein paar Takt Marschmusik auf der Kassette stellt sich ein blonder Junge vor: "Guten Tag! Ich heiße Hans, Hans Schaudi." Er zeigt auf einen Mann: "Hier ist mein Vater." Und Vater Schaudi stellt sich vor: "Guten Tag! Ich heiße Heinrich Schaudi. Hans ist mein Sohn." Nach Frau Schaudi namens Liesl bellt dann der wahrscheinlich bekannteste deutsche Hund im Ausland. Dazu Hans: "Lumpi ist mein Hund." Wer in Sao Paulo oder Seoul seinen Hund Lumpi nennt, hat sehr wahrscheinlich diesen "Vorwärts"-Kurs mitgemacht. Die zweite Hauptperson wird von Heinrich Schaudi auf die Bühne gebeten: "Hier ist Lieselotte, Lieselotte Meyer. Lieselotte ist nicht meine Tochter." Dann erzählt Lieselotte, dass ihre Eltern in Amerika sind. Während Dieter, der Bruder von Lieselotte, in Hamburg lebt, wohnt Inge, die Schwester von Hans, in München. Puh - ganz schön viele Namen für den Anfang.
Für die Autoren dieser Lektionen sind Namen wohl wie eine Art Eintrittskarte in die neue Sprache. Diese Meinung teilte offensichtlich auch unsere Lehrerin. Sie verpasste jedem von uns einen typisch deutschen Vornamen, zum Beispiel Erich, Bruno, Heinrich oder Rolf. Selbstverständlich waren diese Namen auch dazu da, um uns weiter mit dem "r" zu quälen. Am Fiesesten fanden wir "Erich", für Chinesen ein Ding der Unmöglichkeit, selbst wenn wir die Flatterzunge halbwegs beherrschen. Ich dachte damals: Wenn jeder zweite Deutsche "Erich" heißt, müssen wir da eben durch. In Deutschland fühlte ich mich dann mehr oder weniger reingelegt. Die typisch deutschen Namen sind Kevin, Ben, Elias, Milan, Aljoscha, Ahmet undsoweiter. Weit und breit kein Erich. Bis auf Erich Honecker natürlich.
Die Vornamen für uns Mädchen waren leichter auszusprechen, zum Beispiel Gisela, Eva, Inge oder Wanda. Auch diesen Namen bin ich in Deutschland selten begegnet. "Wanda" kenne ich eigentlich nur als Gaunerin aus dem britischen Film "Ein Fisch namens Wanda". Bei der jüngsten Fußball-WM haben die Deutschen dann erfahren, wer Wanda wirklich ist: Sie ist ein Konzern aus China. Bei jedem aus deutscher Sicht miserablen Spiel sprang uns der Name 万达 von den Banden ins Auge. Von allen Mädchen hatte es mich mit am besten erwischt - fünf Jahre lang hieß ich für die anderen Deutschschüler "Monika".
Mit Spaß und Fleiß dabei
Mit unserer neuen deutschen Identität sind wir durchgestartet. All die Sätze von Hans, Lieselotte, Heinrich, Liesl und später Fritz Meyer (Vater von Lieselotte) lernten wir auswendig. Wir verteilten die Rollen und spielten die Szenen nach. Ich habe mir mal als Lieselotte das Bein gebrochen. Wie das bei einem Spaziergang durch den Wald passieren konnte, bleibt mir bis heute ein Rätsel! Ein anderes Mal flehte ich meinen Vati Fritz an, damit ich in einen Gruselfilm gehen durfte. Außer im Kino war Lumpi auch immer dabei. Oft konnten wir vor lauter Lachen keinen Satz mehr über die Lippen bringen.
Zwei Jahre haben wir mit Hans und Lieselotte verbracht, durch sie den deutschen Alltag kennengelernt und Hunderte von deutschen Sätzen auf unserer Festplatte im Gehirn gespeichert. Und wie eine Schallplatte mit Sprung wiederholte die Lehrerin ihre Aufforderung: "Redet ganz laut Deutsch! Von mir aus gegen eine Wand oder die Große Mauer." Da die Große Mauer von Peking aus nicht gerade um die Ecke liegt, habe ich mir eine ruhige Ecke auf dem Schulgelände ausgesucht, um morgens die Vokabeln vor mich hin aufzusagen und nachmittags die gelernten Sätze laut gegen die Wand zu sprechen. Im Laufe der Jahrzehnte ist diese Wand vermutlich Zeugin von vielen Liebespaaren gewesen, aber ganz bestimmt hat sie nie so viele exotische Wörter vernommen. Eine geduldige Zuhörerin war sie auf alle Fälle.
Im Nachhinein war das die entspannteste Zeit meines Deutschlernens. Denn im dritten Jahr rollte der dicke Brocken deutsche Grammatik auf uns zu.
Zhang Danhong ist in Peking geboren und lebt seit 30 Jahren in Deutschland. In der Serie "Deutschsein ist kein Zuckerschlecken" schreibt sie einmal wöchentlich über ihre ersten Kontakte mit der deutschen Sprache und ihre Integration in Deutschland.