Die jungen Wilden machen Hoffnung
17. Oktober 2018Linksverteidiger Nico Schulz wirft nochmal alles, was der Körper hergibt, in das Laufduell mit Kylian Mbappé. Schulz macht den Weg zum Tor zu und klärt zur Ecke - das muss man erstmal schaffen gegen den wohl schnellsten Spieler auf dem Planeten. Spätestens nach dieser Szene nach einer Stunde ist klar, dass sich die deutsche Mannschaft nicht noch einmal so naiv anstellen wird wie bei der 0:3-Pleite vor wenigen Tagen gegen die Niederlande.
Gegen Weltmeister Frankreich ist die DFB-Elf kaum wiederzuerkennen. Zum einen spielt sie einen strukturierten Fußball mit zielstrebigen, gefährlichen Kontern - ähnlich wie "Les Bleus”, die diesen Spielstil beim WM-Titelgewinn im Sommer perfektioniert haben. Zum anderen hat die Mannschaft viele neue Gesichter. Junge Gesichter. Da wirft sich Abwehrchef Niklas Süle (23 Jahre) in jeden Schuss und Zweikampf, da wirbeln Leroy Sané (22), Serge Gnabry (23) und Timo Werner (22) als neues Angriffstrio. Und auf den Außenbahnen spielen sie wie alte Hasen: Thilo Kehrer (22) in seinem ersten Länderspiel von Beginn an und eben Nico Schulz (25) in seinem zweiten überhaupt. Besonders Schulz gehört zu den Besten auf dem Platz, dort links hinten, wo sonst Zweitligaspieler (Jonas Hector) oder Rechtsfüße verteidigten (Benedikt Höwedes bei der WM 2014).
Fünf Neue in der Startelf überzeugen
Sie alle bestehen eine besondere Prüfung in der hitzigen Schlussphase im Stade de France in Paris. Und auch wenn der Weltmeister das Spiel durch zwei Tore von Superstar Antoine Griezmann noch zum 2:1 (0:1)-Endstand drehen kann, haben zumindest die fünf Neuen in der DFB-Startformation Punkte sammeln können. "Die jungen Spieler haben das sehr gut gemacht”, war auch Bundestrainer Joachim Löw nach dem Spiel zufrieden. "Sie haben ihr Herz in die Hand genommen und eine klasse Leistung gezeigt.”
Tatsächlich sah das Spiel gegen Frankreich trotz der Niederlage zum ersten Mal nach einem echten Neuanfang aus. Junge, motivierte Spieler bekommen Vertrauen geschenkt und dürfen von Beginn an auflaufen. Ältere arrivierte, aber formschwache Kräfte müssen dafür von der Bank aus zuschauen (Thomas Müller) oder vor dem Fernseher, weil bereits verletzt abgereist (Jerome Boateng). So hatte sich der WM-Blues der DFB-Elf zuletzt doch arg ausgedehnt und auch dem Bundestrainer heftige Kritik beschert . Das Spiel gegen Frankreich wurde schon zum vermeintlichen Abschiedsspiel auserkoren. Dank der ansprechenden Leistung seiner Elf gegen den Weltmeister kann Löw erstmal etwas durchatmen. Er bleibt dennoch Bundestrainer auf Bewährung, kritisch beäugt von den Medien und unzähligen vermeintlichen Experten.
Löw sieht keine "Wachablösung”
Und eines muss er sich fragen lassen: Warum nicht gleich so? Warum hat Löw nicht schon zuvor mehr auf die Jugend gesetzt? Auf eine mutige Aufstellung? Auch die Dreierkette, die sich bei gegnerischem Ballbesitz weit zurückgezogen zu einer Fünferkette formt, hat sich als ganz gute Idee herausgestellt. Hätte man sie nicht auch früher testen können?
"Manchmal sind Aufstellungen falsch in einer Trainerkarriere, manchmal richtig”, versuchte Löw sich zu verteidigen. "Junge Spieler unterliegen Schwankungen. Diese Konstanz, die wir brauchen, kommt erst mit der Erfahrung."
"Aber nach dem 0:3 gegen Holland musste ich neue Impulse setzen, das war klar", sagte Löw. So langsam drohen einzelne Eckpfeiler der WM-Achse, die 2014 den Titel gebracht hat, wegzubröckeln. Manuel Neuer im Tor und Toni Kroos als Lenker im Mittelfeld haben ihre Plätze noch sicher. Aber Mats Hummels, der gegen Frankreich den Elfmeter zum spielentscheidenden 1:2 verursachte, und auch Jerome Boateng haben vermehrt mit Kritik und Verletzungen zu kämpfen. Zudem macht Niklas Süle als Nachrücker weiterhin Druck, im Verein wie in der Nationalelf. Thomas Müller, der gegen Frankreich nur für die letzten Minuten ins Spiel kam, gilt ebenso als einer der Verlierer der Länderspiel-Woche in der Nations League. Noch ist der Abstieg aus der Gruppe A nicht sicher - sollten die Niederlande gegen Frankreich verlieren und Deutschland im letzten Spiel Oranje besiegen, dann wäre der Klassenerhalt doch noch knapp geschafft..
Löw will dennoch die alten, einst weltmeisterlichen Stammkräfte um Thomas Müller nicht abschreiben. "Er ist nach wie vor wichtig, ein Antreiber, der auch viel mit jungen Spielern spricht”, meint Löw. Von einer Signalwirkung für die jungen Wilden oder einer Wachablösung will er nichts wissen. Er wird sich ihr dennoch stellen müssen. Es ist wohl seine größte Herausforderung nach dem WM-Titel 2014. Neue Spieler, neuer Spirit - nur so gelingt ein echter Neuanfang.