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Die 90er in Berlin: "bunt, laut, einmalig"

9. August 2018

Viele vergleichen das Berlin der 90er Jahre mit dem New York der 70er Jahre. Die ganze Stadt eine Spielwiese für Kunst und Nachtleben. Exotisch, unberechenbar und produktiv. Eine Ausstellung erinnert an die wilde Zeit.

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Multimedia-Ausstellung "Nineties Berlin" in der Alten Münze Berlin
Bild: nineties berlin

Als einer von vier Kuratoren hat Michael Geithner die Multimedia-Ausstellung "Nineties Berlin" in Zusammenarbeit mit dem DDR Museum Berlin entwickelt. Im DW-Interview erzählt er vom einzigartigen Charme der Neunzigerjahre - samt partywütiger Ost-Berliner, kunterbunter Orte, Hooligans und Hausbesetzer. Die Schau läuft bis zum 28. Februar 2019 in der Alten Münze, einem ehemaligen Münzprägewerk in Berlin-Mitte.

Deutsche Welle: Herr Geithner, die Ausstellung "Nineties Berlin" will Besucher in das Berlin der Neunzigerjahre zurückversetzen. Warum jetzt?

Michael Geithner: Es ist einfach Zeit dafür. Inzwischen sind fast dreißig Jahre vergangen, eine ganze Generation ist nachgerückt. Es gibt einen zeitlichen Abstand. Auch räumlich hat sich einiges verändert. Viele Leute, die Berlin in den Neunzigern erlebt haben, denken über diese Zeit nach und haben das Bedürfnis, die Ereignisse aufzuarbeiten.

Uns im DDR-Museum lag außerdem viel daran, die Geschichte über den Mauerfall hinaus zu erzählen. Nur weil Deutschland wiedervereinigt war, war diese Zeit ja nicht abgeschlossen.

Die einen können sich also noch gut an die Neunzigerjahre erinnern - Zitat eines Kollegen: "Als wäre es gestern gewesen". Die heute unter 18-Jährigen hingegen haben das Jahrzehnt nicht miterlebt. Wie schafft es die Ausstellung, beide Gruppen gleichermaßen anzusprechen?

Das ist immer eine Herausforderung, aber ich denke, es hat funktioniert. Die Jugendlichen von heute können an viele Themen von damals leicht anknüpfen. Ob es nun Berliner Clubs sind, die es noch gibt, oder die Musik, die noch gehört wird. Auch die jugendliche Aufbruchstimmung von damals fasziniert die junge Generation: Da geht es um Freiräume, die man sich wünscht, wenn die Schule vorbei ist. Zum Beispiel in eine neue Stadt ziehen, wo die Miete nicht viel kostet. Diese Themen sind ein guter Ausgangspunkt, um in die Tiefe zu gehen.

Für die Ausstellung haben wir außerdem einen Guide Bot fürs Smartphone entwickelt. Besucher können damit auf über 200 Informationstexte und Bilder zugreifen, also thematisch dort ins Detail gehen, wo sie möchten. 

Die Ausstellung widmet der Berliner Club- und Kultur-Szene der Neunzigerjahre einen eigenen Raum. Was können Besucher dort erleben?

Dieser Raum heißt "Lost Berlin". Die Besucher wandeln durch ein Labyrinth und finden all die kunterbunten Orte, die es in dieser Form heute nicht mehr gibt, in Sackgassen wieder. Dazu gehören zum Beispiel der Techno-Club "Tresor" und die ersten großen Ost-Berliner Raves der Partyreihe "Tekknozid". Auch Orte wie das "Kunsthaus Tacheles" und die legendäre Kulturstätte "IM Eimer" kann man dort erleben. Das Ganze mündet in einem kleinen Spiegelraum, der der Loveparade gewidmet ist.

Warum waren die Neunzigerjahre für Berlins Kreativszene besonders prägend?

Weil wahnsinnig viel passiert ist. Die Loveparade ist explodiert. 1989 waren 150 Leute dabei. Im Jahr darauf schon doppelt so viele, und es wurden immer mehr. Für die Ausstellung haben wir unter anderen DJ WestBam (einer der wichtigsten DJs der ersten Technogeneration, Anm. der Red.) als Zeitzeugen interviewt. Er sagte, dass ohne Ost-Berlin die ganze Techno-Partie-Kultur eine ganz kleine Sache geblieben wäre. Nachdem die Mauer gefallen war, sind die Ost-Berliner partywütig in den Westen gefahren und haben dort die Clubs vollgemacht.

Auch die Berliner Mauer ist ein wesentlicher Bestandteil der Ausstellung. Besucher können zum Beispiel Mauerteile erklimmen und Selfies von oben machen. Gleichzeitig wird an die vielen Mauertoten erinnert. Wie wirkte die Mauer in den Neunzigern nach?

Es war uns wichtig, das Thema nicht auszuklammern. Als die Mauer weg war, gab es in Berlin plötzlich diesen grünen Streifen, der sich durch die Stadt zog. Ein Freiraum ist entstanden, mit dem man nicht so richtig etwas anzufangen wusste. Das hat das komplette Leben beeinflusst.

In den Köpfen war die Mauer natürlich noch da. Die Aufarbeitung der geteilten Stadt schwebte in den Neunzigerjahren mit. Als Kuratoren standen wir vor der Herausforderung, zum einen eine kraftvolle Inszenierung zu entwickeln und zum anderen an die 140 Mauertoten zu erinnern. Die Biografien dieser Menschen und die Umstände ihres Todes werden in einzelnen Texten erzählt.

Neben WestBam haben Sie zwölf weitere Zeitzeugen für die Ausstellung befragt. Worauf haben Sie bei der Auswahl der Personen geachtet?

Das war ein schwieriger Prozess, weil eine Vollständigkeit niemals abzubilden ist. Mir war es sehr wichtig, eine Vielfalt an Stimmen zu Wort kommen zu lassen. Unter den Zeitzeugen sind sowohl bekannte Persönlichkeiten mit einer Leuchtturmwirkung wie beispielsweise Inga Humpe, Gregor Gysi oder WestBam. Aber wir wollten auch die einfachen Geschichten erzählen, die stellvertretend stehen für größere Prozesse.

Zum Beispiel?

Besonders spannend finde ich die Geschichte von einem ehemaligen Hooligan, der zu der Zeit in der Szene sehr aktiv war. Aber auch die komplette Gegenansicht von einem Polizisten aus demselben Kiez, der die ganzen Konfrontationen zwischen Hooligans, Nazis, Hausbesetzern und der Polizei miterlebt hat. Diese Geschichten sind wahnsinnig berührend und beispielhaft dafür, wie verrückt diese Zeit war.

Apropos verrückt, mit welchen drei Worten würden Sie der Generation 2000 plus die Neunzigerjahre in Berlin beschreiben?

Bunt, laut und einmalig.

Was fehlt dem heutigen Berlin verglichen mit den Neunzigern?

Berlin steht heute vor der Frage: Was bist du eigentlich? Die Stadt kann sich nicht mehr damit rühmen, "arm aber sexy" zu sein, wie es vielleicht Anfang der Neunziger der Fall war. Zwar wird der Mythos dieser Zeit immer wieder bemüht. Aber ich glaube, Berlin ist das nicht mehr. Die Stadt müsste aktiv daran arbeiten, Freiräume zu schaffen für Künstler, Studenten und junge Leute, günstigen Wohnraum anzubieten, aber auch Platz für politische Debatten. Berlin darf sich nicht vollkommen ausverkaufen.

Das Gespräch führte Paula Rösler.