Die vergessenen Vororte in der Brasiliens Metropole São Paulo
30. September 2010"Alle haben hier alles verloren." Zalia Souza Andrade macht mit dem Arm eine weitausholende Bewegung und zeigt auf die Abfallberge rund um sie herum. Die 40-Jährige steht mit ihren Neffen Bruno am Ufer eines Nebenarmes des Rio Tietê, der die brasilianische Mega-Metropole São Paulo durchquert. Noch vor einem Jahr standen hier die bescheidenen Häuser von mehr als 100 Familien. Der 8. Dezember 2009 wird allen Bewohnern des Viertels Jardim Pantanal in der Peripherie der 20-Millionen-Metropole für immer in Erinnerung bleiben.
Der stinkende mit Abwässern verseuchte Fluss trat über die Ufer und riss die Häuser mit sich. Ganze 70 Tage stand das ganze Viertel unter Wasser. Rund 25.000 Menschen waren betroffen. "Keiner hat uns geholfen. Niemand hat sich hier blicken lassen", erzählt Zalia verbittert. Nicht einmal die Feuerwehr sei gekommen, um das Wasser aus den Häusern zu pumpen. Wer konnte, sei bei Freunden oder Verwandten untergekommen. "Doch das waren die wenigsten." Viele Familien sind obdachlos und leben jetzt auf der Straße. Auch heute noch liegt über dem Viertel ein feucht modriger Geruch, der sich im Gemäuer und in den Wohnungen festgesetzt hat. Es riecht nach Kloake. Ein Abwassersystem gibt es nicht, obwohl die Stadtverwaltung das schon lange versprochen hat.
"Wir existieren einfach nicht“
Beim Gang durch die vom Regen aufgeweichten Straßen wird schnell klar, Jardim Pantanal gehört zu den vergessenen Vierteln von São Paulo. Ende der 70er Jahre entstanden hier die ersten illegalen Hütten. Hier ließen sich aus dem armen Nordosten des Landes zugewanderte Familien nieder, angelockt mit den Versprechen auf Arbeit und Wohlstand. Ohne jede Planung ist so eine kleine Stadt für mehr als 130.000 Menschen entstanden. Am Rand von Jardim Pantanal wuchern die Favelas. Die Bilder der tristen Vororte in der Peripherie von Brasiliens aufstrebender Industriemetropole gleichen einander.
Selbst jetzt im brasilianischen Wahlkampf interessieren sich die Kandidaten nicht für die Probleme der Bewohner. Vereinzelt kleben an den Häusern halb verwitterte Plakate von Präsident Lula da Silva, Arm in Arm mit seiner wahrscheinlichen Nachfolgerin Dilma Rousseff. Mehr aber nicht. Dabei sind die armen Vororte rund um Brasiliens Millionenstädte traditionell eine Hochburg von Lulas Arbeiterpartei PT. "Wir existieren einfach nicht", sagt Zalia. Kein Kandidat der größeren Parteien sei vorbeigekommen und habe sich für die Sorgen der Bewohner interessiert.
"Brasilien lebt in einer sozialen Tragödie“
Brasilien ist ein Land extremer Gegensätze, die besonders in der Wirtschafts- und Finanzmetropole São Paulo aufeinanderprallen. Trotz Wirtschaftskrise hat sich die Zahl der Millionäre im vergangenen Jahr um geschätzte 15 Prozent erhöht. Mehr als 160.000 sollen es inzwischen sein. 64 Prozent des Volkseinkommens sind in der Hand von nur zehn Prozent der Bevölkerung. "Brasilien ist unter den Top Ten der Länder mit der ungleichsten Einkommensverteilung", sagt auch der Chefökonom der Getulio-Vargas-Stiftung, Marcelo Neri. Dank eines stabilen Wirtschaftswachstums sind zwar in den vergangenen vier Jahren rund 36 Millionen Menschen in die so genannte untere Mittelklasse aufgestiegen. Aber trotzdem leben etwa neun Prozent der Bevölkerung und damit rund 17 Millionen Menschen in absoluter Armut.
An diesen Zahlen haben auch acht Jahre Regierung Lula da Silva und die zahlreichen Sozialprogramme wenig geändert, wie aus der neuesten Untersuchung der staatlichen Statistikbehörde (IBGE) hervorgeht. Die offizielle Analphabetenrate ist in den vergangenen Jahren auf gleichem Niveau bei etwa zehn Prozent konstant geblieben. Die Zahl der Menschen, die nicht viel mehr als ihren Namen schreiben können, liegt sogar bei mehr als 20 Prozent.
"Brasilien lebt in einer sozialen Tragödie", kommentiert der bekannte Soziologe von der Staatlichen Universität in Campinas, Ricardo Antunes, die Daten. Zwar hätten 95 Prozent aller Haushalte einen Fernseher, aber nur rund 59 Prozent seien an das Abwassersystem angeschlossen, sagt er. In den vergangenen Jahren des Wirtschaftsbooms sei die Chance auf einen strukturellen Wandel verpasst worden.
Wenn Zalia auf dem Weg zur Arbeit ins Stadtzentrum von São Paulo fährt, kommt sie auch an den Vierteln der Oberklasse vorbei. Nur wenige Kilometer vom Schmutz und Gestank des Tietê entfernt, ragen weiße Wolkenkratzer gen Himmel. Die Bewohner von Jardim Pantanal kennen die Nobelviertel mit so futuresken Namen wie Alphaville höchstens als Hausmädchen oder Wachmann. Die geschlossenen Wohnanlagen, Condominios genannt, sind durch meterhohe Elektrozäune, Überwachungskameras und Privatpolizei gesichert. Hubschrauberlandeplätze auf den Dächern der Wolkenkratzer gehören hier zur Normalität.
Schönheitssalons, Supermarkt, Kino und Fitnessstudio sind innerhalb der oft parkähnlichen Condominios untergebracht. Es gibt für die zahlungskräftigen Bewohner also keinen Grund, sich der anderen Realität von São Paulo stellen zu müssen. Auf die großen Gegensätze angesprochen, erwidert Zalia nur: "Ich bin arm geboren und werde es immer bleiben."
Autorin: Susann Kreutzmann
Redaktion: Mirjam Gehrke