Die Angst der Indigenen vor dem Rechteverlust
21. November 2019Als sie auf den Balkon des Quemado-Palasts in La Paz trat, hielt sie eine Bibel in ihren Händen - und nicht die Verfassung des Landes. Diese Geste der bolivianischen Interimspräsidentin Jeanine Áñez beunruhigte nicht nur die Anhänger des ehemaligen Präsidenten Evo Morales. Sie befürchten, dass die katholische, ultrakonservative Übergangspräsidentin nicht die Interessen der gesamten Bevölkerung, sondern nur ihrer eigenen Klientel vertreten könnte. "Hier offenbaren sich die Kräfte der ehemaligen Opposition, die jetzt die Chance wittert, viele der von Evo Morales eingeleiteten Veränderungen rückgängig zu machen", meint Jonas Wolff, Politologe bei der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung in Frankfurt am Main. Dazu gehörten verfassungsmäßig garantierte Rechte für die Indigenen, der Aufstieg einer neuen Mittelschicht mit starker indigener Beteiligung, die Präsenz von Menschen unterschiedlicher sozialer und ethnischer Herkunft in staatlichen Institutionen, der Ausbau der Infrastruktur sowie der bessere Zugang zu Gesundheitsversorgung und Bildung.
"Rassistischer Revanchismus"
Zum Auftritt von Jeanine Áñez würden auch andere "revanchistische" und "rassistische" Äußerungen und Handlungen hinzukommen, schreibt Carlos Macusaya, Gründer der Indigenen Bewegung MINKA, in seinem Blog. Vor allem Bilder, die eine Verbrennung der indigenen Flagge, der Whipala, zeigen, "empören viele Bolivianer", so Macusaya.
Die Reaktionen der Übergangsregierung schüren eher das Feuer: Die neue Ministerin für Kommunikation drohte damit, "aufwieglerische Journalisten" zu verfolgen, und ein Dekret der Interimspräsidentin schützt Militär- und Polizeikräfte von strafrechtlicher Verfolgung. Die interamerikanische Menschenrechtskommission (CIDH) zählt bereits 23 Todesfälle seit dem Regierungswechsel. "Alles indigene Brüder", schreibt Evo Morales aus dem mexikanischen Exil.
Die indigene Basis der MAS-Partei zerfällt
Die Soziologin und Anthropologin Gabriela Canedo von der Universidad Mayor de San Simón in Cochabamba lehnt die Darstellung des Konflikts als Polarisierung zwischen "Indigenen" und "Weißen" ab: "Die bolivianische Bevölkerung hat sich im Februar 2016 für die Demokratie entschieden", betont sie im Gespräch mit der DW. Sie bezieht sich auf das Referendum, das Morales die Option einer vierten Amtszeit eröffnen sollte, vom Volk aber verweigert wurde.
Später genehmigte das Verfassungsgericht doch eine erneute Kandidatur von Morales. Diese Entscheidung betrachtet Canedo als Ursprung der gegenwärtigen Krise, doch gehe sie über das Wiederauftreten ethnischer Spannungen hinaus.
Als Wählerin bedauere sie, dass die Bolivianer damals nicht vehementer gegen die Entscheidung der Richter protestiert hätten. Als Soziologin betrachtet Canedo die damaligen Ereignisse als Ausgangspunkt für den Bruch der Einheit unter den Indigenen und den beginnenden Verlust der Unterstützung für die MAS-Partei von Evo Morales.
Friedlicher Ausweg?
Die Anhänger der MAS-Partei haben sich mit der neuen Situation noch nicht abgefunden. Plötzlich in der Opposition, fordern sie eine Mobilisierung ihrer Basis - dies aber ohne einen führenden Kopf und ohne konkrete Forderungen, kritisiert Macusaya. Er lehnt eine Rückkehr von Evo Morales ab, ganz im Gegensatz zur Mehrheit der Indigenen in der Region El Alto und Cochabamba.
In dieser angespannten Situation sind "Verhandlungen zwischen den Führern aller politischen Kräfte im Parlament von entscheidender Bedeutung, da sonst die Gewalt weiter zunimmt", befürchtet die Soziologin Canedo. Macusaya wiederum fordert, dass "die Regierung Neuwahlen ausrufen muss und dafür ein neues Wahlgericht bestimmt". Hierfür brauche es aber eine Garantie, die den Anhängern der MAS versichert, dass sie nicht verfolgt werden und frei an den Wahlen teilnehmen können. Möglicherweise müsste die MAS-Partei aber die Bedingung akzeptieren, dass Evo Morales nicht erneut als Präsidentschaftskandidat aufgestellt wird.