Angst vor "Silberregen"
16. November 2012Sie sieht erbärmlich aus, die Avenida João XXIII, eine kilometerlange, schnurgerade Straße am Stadtrand von Rio de Janeiro. Viele der Ziegelhäuser sind nicht verputzt, streunende Hunde kämpfen um Müll, der aufgehäuft am Bordstein liegt. Verschmutzte Kanäle kreuzen die Straße. Darin steht stinkendes Wasser.
Santa Cruz, im Westen der berühmten Metropole, ist eines der Armenhäuser Rios. Viele Bewohner sind stundenlang unterwegs, um zur Arbeit zu kommen. Als im September 2006 genau hier, in der Bucht von Sepetiba, ThyssenKrupp den Grundstein für das Stahlwerk Companhia Siderúrgica Atlântica (CSA) legt, feiern die Menschen - auch in der Avenida João XXIII. Das geplante Mega-Projekt versprach langfristig 3500 Arbeitsplätze direkt vor der Haustür.
Sechs Jahre später verdienen tatsächlich über 2000 Brasilianer ihr Geld im größten Stahlwerk Lateinamerikas. Trotzdem ist die Stimmung heute eine andere, denn immer wieder klagen die Bewohner über gesundheitliche Beschwerden, die durch Graphitstaub-Emissionen ausgelöst werden sollen.
Atembeschwerden und Hautkrankheiten
Vor dem Zaun, der das Gelände der CSA von den Wohnhäusern der Avenida João XXIII trennt, steht ein kleiner Kiosk, an dem sich vor allem die Kleinbusfahrer ihren Kaffee, Zigaretten oder eine Zeitung kaufen. Sie stehen während ihrer Pause zusammen, schauen zum benachbarten Stahlwerk und schimpfen über den Graphit-Staub. "Vor allem nachts fällt dieser Silberregen auf unsere Dächer. Am nächsten Morgen ist dann alles dreckig, zentimeterhoch sammelt sich der Staub an den Bordsteinkanten", sagen sie. "Das machen die extra nachts, wenn es keiner sieht." Seitdem der Staub fällt, ginge es allen schlechter, man habe Allergien, Atembeschwerden und Hautreizungen.
Wer mehr darüber sagen könne, sei Dalva da Silva Oliveira. Sie wohnt in einem kleinen Haus direkt am Zaun. Dalva öffnet sofort, hält ihre bellenden Hunde zurück. Sie trägt ein Brasilienshirt von der Fußball-WM 2006 und einen geflickten hellblauen Rock. Durch ihr schwarzes krauses Haar schimmern graue Strähnen. "Schauen Sie sich meinen Hund an: niemand weiß, was diese Hautkrankheit ist." Eines ihrer beiden Tiere hat große Pusteln an den Beinen und am Bauch. "Die jucken ihn sehr", erklärt Dalva und der Tierarzt wisse nicht was es sei. Dalva hingegen ist sich sicher, dass die Krankheit ihres Hundes vom "Silberregen" der CSA kommt. Zum letzten Mal sei der Graphit-Staub am 30. Oktober 2012 über Santa Cruz niedergegangen.
"Graphit-Staub ist nicht giftig"
"Wir hatten fast zwei Jahre keinen solchen Zwischenfall", sagt dagegen Luciana Finazzi, die Pressechefin der CSA. "In drei Gemeinden, etwa zwei Kilometer vom Werk entfernt, ist tatsächlich Graphit-Staub gefunden worden." Der sei jedoch nicht giftig - und ganz normal bei der Gewinnung von Stahl.
Claudia Besch ist Hautärztin und lebt selbst in Santa Cruz. Ihr Auto ist gelegentlich vom Silberregen bedeckt, auch auf ihrem Dach sammelt sich der Graphit-Staub. "Das ist nicht schön", sagt sie, "aber giftig sind vor allem die Partikel in der Luft, die wir nicht sehen können. Wenn die Konzentration in der Luft dauerhaft hoch ist, kann es Auswirkungen haben." Der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zufolge sollte der Anteil der Graphit-Partikel eine durchschnittliche Tagesmenge von 50 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft höchstens dreimal im Jahr überschreiten.
In Brasilien gelten jedoch Grenzwerte, die dreimal höher liegen als die der WHO. Doch selbst die werden von CSA überschritten. "Wer ohnehin allergisch auf Graphitstaub reagiert, der ist natürlich betroffen, und das kann sich äußern, wie jede andere Allergie auch", so Besch. Es dürfte den Erkrankten also schwerfallen, die Ursache ihrer Allergie eindeutig CSA zuzuschreiben.
ThyssenKrupp helfen solche Einschätzungen nur bedingt. Das brasilianische Werk des deutschen Traditionsunternehmens wurde von den Umweltbehörden in Rio de Janeiro mit einer Strafe von umgerechnet rund vier Millionen Euro belegt. Die Umweltbehörde ordnete zusätzlich eine Kompensationsleistung im Umfang von umgerechnet 1,7 Millionen Euro an. Zudem sollen nun 15.000 Bäume rund um die Avenida João XXIII gepflanzt werden. Es ist das dritte Mal, dass ThyssenKrupp wegen der Graphitstaub-Emissionen belangt wird. "Uns tut das leid, wir möchten uns bei den Bewohnern entschuldigen", sagt Luciana Finazzi. "Der Staub ist durch starke Windböen in die Luft gewirbelt worden."
Luftverschmutzung nicht neu
In der Avenida João XXIII gehen die Meinungen auseinander. Wer von ThyssenKrupp profitiert, der schwört darauf, dass es nie anders gewesen sei mit der Luftverschmutzung. Auch nicht vor der Errichtung des Stahlwerks. Eduardo Marques zum Beispiel hat sein ganzes Leben in Santa Cruz verbracht, er ist 56 und betreibt mit seiner Frau einen kleinen Supermarkt in der Straße. Die Geschäfte laufen besser denn je, seit es CSA gibt. Wer hingegen kein Geschäft hat, in dem die Kunden dank ThyssenKrupp nun mehr Geld ausgeben, oder Familienangehörige, die bei dem Stahlwerk beschäftigt sind, sieht keinen Grund, die Nachteile einer solchen Schwerindustrie in direkter Nachbarschaft hinzunehmen.
"Meine Tochter muss ständig husten und bekommt schlechter Luft als früher", klagt Dalva. Die 42-Jährige stammt eigentlich aus dem Bundesstaat Minas Gerais, kam mit elf Jahren nach Rio und hat mit ihrem Mann ihr kleines Ziegelhaus selbst gebaut. Doch die Wände können den Erschütterungen des Bodens kaum standhalten, die die Güterzüge mit Erzlieferungen erzeugen. "Früher war hinter unserem Garten alles voller Wald, heute verlaufen dort Bahnschienen und nachts fahren Züge mit 190 voll beladenen Waggons vorbei." Dann wackelt das Geschirr in den Schränken. Die Vibrationen haben an den Hauswänden tiefe Risse verursacht. "Ich habe Angst, dass hier alles zusammenfällt." Die Erschütterungen sind bis ins Stadtzentrum von Santa Cruz spürbar. Marilza Nunes arbeitet dort seit über 20 Jahren als Putzfrau. "Es ist viel mehr Dreck und Staub als früher", sagt sie. "Mittlerweile muss ich jeden Tag wischen, das war sonst nicht nötig."
Späte Erkenntnis
Marilene Ramos, Vorsitzende des Umweltsekretariats des Bundesstaates Rio de Janeiro (INEA), interessiert sich kaum für die Gründe, warum es wiederholt zur Verschmutzung gekommen ist. "Bei der Planung des Werks war ganz klar vereinbart, das so etwas nicht passieren darf", sagt sie. "Wenn wir das alles vorher gewusst hätten, hätten wir das Werk damals nicht zugelassen." Das haben sie aber, und dadurch für einen entscheidenden Moment auch ihre eigentliche Aufgabe außer Acht gelassen: den Umweltschutz. Nun droht der regionale Umweltminister Carlos Minc sogar, den Betrieb stillzulegen, sollte es noch einmal zu Unregelmäßigkeiten kommen.