Die Angst vor einem zweiten Somalia im Jemen
5. Januar 2012Der Jemen ist ein schönes Land. Eine raue Bergwelt, die altertümlichen Hochhäuser von Sanaa, die wegen ihrer Gastfreundschaft berühmten Jemeniten. All das lockte lange auch viele Orienttouristen in das Land. Ausländische Touristen aber kommen schon lange nicht mehr.
Auch die meisten ausländischen Unternehmen haben ihre Mitarbeiter abgezogen, Hilfsorganisationen ihre Arbeit eingestellt, die Botschaften arbeiten mit reduziertem Personal. Die Lage in dem Land im Südwesten der Arabischen Halbinsel ist zu gefährlich geworden.
Zwischen Hoffen und Bangen
Die meisten Einheimischen aber können den Jemen nicht verlassen. Sie schwanken zwischen Hoffen und Bangen. Hoffen auf ein Überwinden der Hinterlassenschaft des Regimes des autoritären Präsidenten Ali Abdullah Saleh und einen demokratischen Neuanfang. Bangen vor einer gewaltsamen Eskalation des Machtkampfes und einem Bürgerkrieg. Seit Monaten schon gehen die Menschen im Jemen auf die Straße. Ihre Forderung: ein Rücktritt von Ali Abdullah Saleh. Im November vergangenen Jahres unterzeichnete Saleh auf Vermittlung der arabischen Golfstaaten nach langem Hin und Her ein Abkommen. Darin verpflichtete er sich zum Rücktritt. Im Gegenzug wurden Saleh, seiner Familie und seinen engsten Mitarbeitern Straffreiheit zugesichert.
Inzwischen hat Saleh die Macht offiziell an seinen Vize Abd Rabbo Mansur Hadi übergeben. Die erhoffte Ruhe aber brachte Salehs Rückzug dem Jemen nicht. Noch immer kommt es vor allem in der Hauptstadt Sanaa und in der zweitgrößten Stadt Tais regelmäßig zu Demonstrationen. Immer wieder sterben dabei auch Menschen. Erst Ende Dezember schossen Regierungssoldaten in Sanaa in die Menge, mindestens 13 Demonstranten wurden getötet. Regierungsangestellte haben sich inzwischen mit Sitzstreiks den Protesten angeschlossen. Auch Mitglieder der Sicherheitskräfte begehren gegen ihre Vorgesetzten auf.
Gegen Straffreiheit
Horst Kopp, Geograph und langjähriger Beobachter der Lage im Jemen, wundert es nicht, dass die Proteste weitergehen. "Das Abkommen mit Saleh", erklärt Kopp, "lässt die wichtigsten Forderungen der Demonstranten außen vor. Sie lehnen Straffreiheit für Saleh ab." Die Demonstranten wollen, dass Saleh für die Schüsse auf friedlich protestierende Oppositionelle bestraft wird. Seit dem Beginn der Proteste Anfang 2011 wurden Hunderte Menschen getötet.
Günter Meyer, Jemen-Experte der Universität Mainz, weist auf ein weiteres Manko des mit Saleh geschlossenen Abkommens hin: "Die alten Eliten des Landes, die Anhänger von Saleh und die Anführer der Stämme, haben sich auf die Bildung einer Übergangsregierung geeinigt. Diejenigen aber, die die Proteste erst ausgelöst haben, die Jungen, die Intellektuellen, haben keine Beteiligung an der Macht."
Die eigentliche Macht liegt laut Horst Kopp beim Militär und dem Sicherheitsapparat. Ob in der republikanischen Garde, einer Eliteeinheit, oder im Geheimdienst: "Überall sitzen an der Spitze Verwandte des Herrn Saleh, sein Sohn, seine Brüder, seine Neffen. Das ganze System ist in den letzten Jahren auf Salehs Großfamilie zugeschnitten worden. Auch die Wirtschaft wird im weitesten Sinne von dieser Familie kontrolliert." Den Demonstranten reicht es nicht, wenn nur der Mann an der Spitze ausgetauscht wird, das System aber bestehen bleibt. Sie fordern einen kompletten Neuanfang. Auch eine mögliche Ausreise Salehs würde die Lage wohl nicht beruhigen. Inzwischen hat Saleh ohnehin erklärt, er wolle das Land zunächst nicht verlassen.
Wahl ohne Wahl
Am 21. Februar, so sieht es das Abkommen vor, soll ein neuer Präsident gewählt werden. Doch bisher gibt es nur einen Kandidaten: den Übergangspräsidenten Mansur Hadi, einen langjährigen Vertrauten Salehs. "Das ist nur eine Marionette. Die Macht wird weiterhin in den Händen der Saleh-Familie liegen", glaubt Horst Kopp.
Günter Meyer ist etwas optimistischer. Mansur Hadi gelte zwar als schwach und besitze keine Hausmacht, könne aber durchaus als Integrationsfigur wirken. Außerdem könne der aus dem Südjemen stammende Hadi möglicherweise mäßigend auf die Sezessionisten in seiner Heimat einwirken.
Jemen war bis 1990 in einen kapitalistischen Nord- und einen kommunistischen Südteil gespalten. Der Süden fühlt sich von der Zentralregierung im Norden benachteiligt. Im Süden liegen die größten Erdölvorkommen des Landes, ein Großteil der Wirtschaftsleistung wird hier erarbeitet. Die Macht aber liegt in den Händen des aus dem Norden stammenden Saleh-Clans. "Wir stellen dem Regime eine Ultimatum", erklärte im Dezember 2011 der Sezessionistenführer Nasser al-Taweel, "entweder es erkennt unsere legitimen Forderungen nach Selbstbestimmung an oder Jemen wird bald in zwei Länder zerfallen."
Schiiten gegen Sunniten
Doch damit nicht genug. Auch im Norden des Jemen, an der Grenze zu Saudi-Arabien, gärt es. Seit Wochen liefern sich die Huthis, eine Schiiten-Gruppierung, Gefechte mit der Bevölkerungsmehrheit der Sunniten. Der Konflikt eskalierte schon mehrmals. 2009 griff sogar das saudi-arabische Militär ein. Das Königshaus des Landes sieht die Huthis als Handlanger des Iran. Bis vor Kurzem hatten die Huthis gemeinsam mit der Opposition friedlich gegen Saleh demonstriert.
Gleichzeitig versucht Al-Kaida ihren Einflussbereich im Jemen auszuweiten. Im vergangenen Jahr eroberten Kämpfer der Terrororganisation die Stadt Sindschibar, Hauptstadt der südlichen Provinz Abjan. Mittlerweile konnten Regierungstruppen zwar Teile der Stadt wieder unter ihre Kontrolle bringen, es gelang ihnen jedoch bisher nicht, die Rebellen vollständig aus der Sindschibar zu vertreiben.
Steuert der Jemen also auf einen Staatszerfall wie in Somalia zu? "Das Land ist an einem Tiefpunkt angekommen. Ohne großzügige Hilfe von außen", so Günter Meyer, "wird sich die Destabilisierung fortsetzen". Auch Horst Kopp blickt pessimistisch in die Zukunft des Landes, "noch pessimistischer als vor einem halben Jahr". Kopp befürchtet "somalische Zustände" und ein Auseinanderbrechen des Jemen. Denn unter der Staatskrise litten auch die Menschen. Die wirtschaftliche Situation der Jemeniten sei inzwischen katastrophal. Die Hälfte der Bevölkerung lebe unter der Armutsgrenze. Mehr als 40 Prozent der Kinder sind unterernährt. Die Wasser- und Stromversorgung bricht regelmäßig zusammen. "Das ist eine furchtbare humanitäre Katastrophe, die sich da abspielt", sagt Horst Kopp. Ohne, dass sie von der Weltöffentlichkeit wirklich wahrgenommen würde.
Autor: Nils Naumann
Redaktion: Zoran Arbutina