Nazijäger im Jahr 2013
28. Oktober 2013Wenn man Andreas Brendel danach fragt, ob es legitim sei, einen 92-Jährigen vor Gericht zu bringen, dann antwortet er knapp: "Mord verjährt nicht." Als Staatsanwalt sei er dazu verpflichtet, Tatvorwürfen nachzugehen. Brendel kennt solche Fragen von Journalisten, eben noch hat er einem russischen Fernsehreporter ein Interview gegeben. Und natürlich hat auch er diese Frage gestellt. Sie bietet sich an, bei einem Mann, der seit zehn Jahren einen Alt-Nazi nach dem anderen vor deutsche Gerichte bringt. Denn Brendel leitet die Zentralstelle für die Bearbeitung von nationalsozialistischen Massenverbrechen in Dortmund.
Andreas Brendel antwortet stets in zwei aufeinanderfolgenden Argumenten. Zuerst rein juristisch. Dann aber folgt ein Zusatz: "Wir haben immer noch die Opfer und die Angehörigen von Opfern. Für sie ist es sehr wichtig, dass ein deutscher Strafprozess durchgeführt und die Schuld der Täter festgestellt wird. Unabhängig davon, ob es nachher noch zu einer Vollstreckung des Urteils kommt. Es ist wichtig, dass die Schicksale dieser Menschen Gehör finden vor deutschen Ermittlern."
"Man merkt, was das den Leuten bedeutet"
Stefan Willms ist Erster Kriminalhauptkommissar in Düsseldorf. Er leitet die Ermittlungsgruppe Nationalsozialistische Gewaltverbrechen beim Landeskriminalamt. Sie ist die einzige Dienststelle in Deutschland, die ausschließlich gegen NS-Verbrecher ermittelt. Somit ist Willms der engste Kollege von Brendel im Kampf gegen Verbrechen, die meist 70 Jahre oder mehr zurückliegen. Willms erinnert sich an einen Fall in Italien, bei dem 60 Männer ermordet wurden. Einer nach dem anderen wurden sie in einen Kellerraum geführt und nacheinander erschossen. Ihre letzten Minuten standen sie vor einem Berg von Leichen. Nur ein Junge überlebte. Nachdem dieser Überlebende dem Kriminalhauptkommissar aus Deutschland von dem Tathergang berichtet hatte, nahm er Willms in den Arm und dankte ihm. "Er habe jetzt fast 60 Jahre auf mich gewartet und sei sehr dankbar, dass ich gekommen bin", erinnert sich der Kommissar. "Da merkt man schon, was das den Leuten bedeutet."
Stefan Willms hat braungelocktes Haar. Trotz einiger grauer Strähnen hat er etwas von einem jungen Rebellen, wie er so in Jeans und kariertem Hemd in seinem Düsseldorfer Büro sitzt, hinter sich ein großes Ausstellungsplakat: "Die Polizei im NS-Staat". So richtig scheint er nicht in den schicken Neubau des Landeskriminalamts zu passen. Man stellt ihn sich viel eher draußen bei Ermittlungen vor. Wie er bei Wind und Wetter Spuren sammelt, fotografiert, mit Menschen spricht. Das passt.
Vielleicht helfe es, meint er, dass er lange genug nach dem Krieg geboren wurde. Er ist Jahrgang 1959. Die Opfer wissen: Er kann nicht an den grausamen Taten der Nationalsozialisten beteiligt gewesen sein. Und doch: "Man merkt, man hat als Deutscher eine gewisse Verantwortung für das, was da passiert ist", sagt er. Wohl fühle er sich bei Ermittlungen am Tatort nie.
Der Angeklagte ist 92 Jahre alt
Als Andreas Brendel das Gerichtsgebäude in Hagen betritt, trägt er einen schwarzen Anzug, weißes Hemd, weiße Krawatte, schwarze Hornbrille. Sehr akkurat sieht er aus. Im Schwurgerichtssaal des Landgerichts Hagen wird der Fall Siert Bruins verhandelt. Der heute 92-Jährige soll als Mitglied des Grenz- und Sicherheitsdienstes in der niederländischen Hafenstadt Delfzijl im September 1944 an der Ermordung eines Widerstandskämpfers beteiligt gewesen zu sein. Die Verhandlungen laufen bereits seit Anfang September.
Tatzeugen leben keine mehr. Also werden Beteiligte eines früheren Prozesses gegen Bruins gehört. Brendel blickt konzentriert, wach, macht sich Notizen, stellt selten mal eine Nachfrage an die Zeugen.
Der gebürtige Niederländer Bruins stand schon einmal in Dortmund vor Gericht. 1980 war das. Die Erschießung des Widerstandskämpfers wertete das Gericht damals als Totschlag. "Wichtig für die Unterscheidung zwischen Mord und Totschlag ist die Frage der Heimtücke", erklärt Brendel später. "Musste das Opfer mit der Tötung rechnen?" Diese Frage bewerte man heute anders als in den 80er Jahren. Deshalb steht Bruins jetzt erneut vor Gericht. Ist die deutsche Justiz jahrzehntelang besonders milde mit mutmaßlichen NS-Verbrechern umgegangen? Dazu möchte Brendel sich nicht äußern. Diese Frage stelle er sich nicht. Es klingt nicht wie eine Ausrede. Brendel hat anderes zu tun. Er will jetzt für Recht sorgen, nicht fragen, warum dies nicht schon früher geschehen ist.
Als Leiter der Zentralstelle für die Bearbeitung von nationalsozialistischen Massenverbrechen in Dortmund ist er zwar allein für Verfahren in Nordrhein-Westfalen zuständig, während die weitaus bekanntere Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg deutschlandweit agiert. Doch letztere ist streng genommen nur eine Vorermittlungsstelle. Kommt es zu Verfahren gegen mutmaßliche NS-Verbrecher, werden die einzelnen Fälle an die Staatsanwälte der zuständigen Bundesländer abgegeben. Und die einzige Schwerpunktstaatsanwalt für NS-Verbrechen ist eben jene in Dortmund, geleitet von Andreas Brendel. Er hat in den vergangen Jahren so gut wie alle prominenten Verfahren gegen NS-Verbrecher geführt.
Das Massaker von Oradour
Andreas Brendel und Stefan Willms entsprechen nicht dem Klischee fanatischer Nazijäger. Sie gehen nüchtern an ihre Sache heran. Erst vor wenigen Wochen waren sie gemeinsam in Oradour-sur-Glane. In dem französischen Ort verübte die deutsche Wehrmacht im Sommer 1944 ein Massaker. Das gesamte Dorf wurde zusammengetrieben, Männer von Frauen mit Kindern getrennt und auf grausame Weise umgebracht. Nur einige wenige überlebten. Die Staatsanwaltschaft Dortmund ermittelt gegen ehemalige Angehörige des SS-Panzer-Grenadier-Regiments "Der Führer". Einer breiten Masse wurde diese Geschichte in Deutschland erst mit dem Besuch von Bundespräsident Joachim Gauck bekannt. Brendel und Willms hatten die Ermittlungen schon lange vorher aufgenommen. Vor Ort haben sie mit den wenigen Überlebenden des Massakers gesprochen. Sie sind wichtige Zeugen, wenn es zu einer Anklage kommt.
In Deutschland haben sie die Wohnungen von Tatverdächtigen durchsucht. Über laufende Ermittlungen darf keiner von beiden sprechen. Aber sie können erzählen, welche Indizien und Beweismittel sie bei Verdächtigen anderer Fälle gefunden haben. Häufig sind es Tagebücher oder Briefe, in denen dann Sätze wie dieser stehen: "Sonnabends fuhr ich wieder mit drei Kameraden los, um in der Umgebung drei Juden zu holen. Wir haben sie dann bei Mondschein auf dem Judenfriedhof erledigt." Sie finden auch Orden und Fotos, die bestimmte Einsatzorte belegen können - einmal haben sie gar eine Tatwaffe entdeckt.
"Die Zeit drängt"
Bei allen Schritten sprechen sich die beiden ab. "Es vergeht keine Woche, in der wir nicht telefonieren", sagt Willms, "mindestens zwei Mal im Monat treffen wir uns." Sie unterstützen sich - auch psychisch. Schließlich lesen sie häufig tagelang nichts anderes als die Details grausamer Morde. "Das legt man nicht so einfach ad acta", sagt Willms. Und dann gibt es da auch noch böse Briefe, die Brendel immer mal wieder bekommt. Was ihm einfiele, alte Leute zu verfolgen. "Die werden von mir dann in der Regel abgeheftet", sagt er trocken. Einmal hat er auch ernsthaftere Drohungen erhalten, seine Familie wurde genannt. "Da hört der Spaß dann für mich auf."
"Es gab Kollegen hier auf der Dienststelle, die sind damit nicht klargekommen", erzählt Willms. "Die haben dann gewechselt." Für Stefan Willms und Andreas Brendel kommt das nicht in Frage. Sie werden weitermachen. "Vermutlich, bis der letzte NS-Verbrecher gestorben ist", sagt Brendel. "Die Zeit drängt. Wenn wir einen Täter finden, dann räumen wir dem große Priorität ein." Erst kürzlich wurde bekannt gegeben, dass deutschlandweit gegen 30 Aufseher aus dem Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz ermittelt wird. Einige der Akten sind unterwegs zu Andreas Brendel und Stefan Willms. Sie haben noch viel zu tun.