Die Sterne zum greifen nah
21. April 2009In Mitteleuropa wird ein Blick ins All durch viel künstliches Licht gestört: Straßenbeleuchtung, Leuchtreklame und Flutlichter beispielsweise überstrahlen die Sterne. Wollen Astronomen professionell ins All blicken, machen sie das nicht von Berlin oder München aus, sondern in Chile. Die Atacama-Wüste im Norden des Landes gilt als weltweit bester Ort, um in die Sterne zu gucken. Und so haben Europas Astronomen dort auf dem Berg Cerro Paranal mitten in der Wüste die beste Sternwarte der Welt errichtet.
Klare, trockene Luft
Die Sonne brennt gnadenlos vom tiefblauen Himmel, die Landschaft erinnert an Aufnahmen vom Planeten Mars: Ockerfarbene, sanft geschwungene Hügel übersät von Gesteinsbrocken, kein Strauch, kein Halm - Wüste so weit das Auge reicht. Die Atacama im Norden Chiles ist gewiss kein gastlicher Ort zum leben - aber in dieser Wüste ist der gut 2.600 Meter hohe Berg Cerro Paranal dem Himmel und damit den Sternen ganz nah. "Den ersten Eindruck von dem Berg, den man von hier hat, ist, dass man diese vier Kuppeln sieht. Es sind ja gar keine Kuppeln mehr, es sind fast schon vier Skulpturen, Strukturen, die da oben stehen. Im Moment gucken die alle in verschiedene Richtungen“, erklärt Bruno Leibundgut. Er ist Chefastronom der Europäischen Südsternwarte ESO. Das Hauptquartier ist in Garching bei München, die Spitzenteleskope aber stehen in Chile: Denn nirgendwo sonst ist die Luft ruhiger, nirgends ist es klarer und trockener als in der Atacama-Wüste. Hier, im Norden Chiles ist das astronomische Paradies auf Erden. Und auf dem Cerro Paranal steht mit dem “Very Large Telescope“ der ESO, kurz VLT, das weltweit beste Observatorium.
Eine halbe Stunde vor Sonnenuntergang nimmt die Hektik hier oben zu. Dann eilt auch ESO-Ingenieur Gerhard Hüdepohl zu dem Teleskop, für das er in dieser Nacht verantwortlich ist. Trotz des Arbeitsplatzes unter sengender Sonne trägt der Ingenieur eine dicke Jacke. Denn die Klimaanlage laufe den ganzen Tag, werde nachts ausgeschaltet und halte tagsüber das Teleskop auf der zu erwartenden Nachttemperatur, erläutrt der Chefastronom. Mit dieser Angleichung der Temperatur wird verhindert, dass der Temperaturunterschied zum Vorabend beim Öffnen der Kuppeln zu groß ist. Denn dann kann es zu Luftwirbeln kommen und die wiederum können die Sicht ins Weltall behindern.
Je größer der Spiegel desto weiter der Blick ins All
In der Kuppel ist es 12 Grad Celsius. Mittendrin ragt das klobige Teleskop gut 20 Meter auf und reicht fast bis an die Decke des Observatoriums. Von einem Rundgang an der Innenseite der Kuppel ist der Blick frei auf den gewaltigen Spiegel. 8,20 Meter Durchmesser machen ihn 53 Quadratmeter groß - die Fläche einer kleinen Drei-Zimmer-Wohnung. Nachts fällt das Licht der Himmelsobjekte auf den Spiegel und wird in die Kameras an der Seite des Teleskops gelenkt. Der Spiegel wurde von der Firma Schott in Mainz aus der Glaskeramik Zerodur hergestellt. Linsenteleskope, wie Galilei sie einst nutzte, lassen sich so groß nicht bauen. Doch die über acht Meter Durchmesser der Spiegelteleskope auf dem chilenischen Berg Paranal sind ganz entscheidend: Denn je größer der Spiegel ist, desto mehr Licht sammelt das Instrument, desto schwächere Objekte sind zu erkennen und desto weiter kann das Teleskop hinaus ins All blicken.
Dann öffnen sich die Tore der Kuppel und geben den Blick frei auf die von der tief stehenden Sonne glutrot gefärbte Wüste. Alles ist bereit, die Nacht kann kommen. Vom Kontrollraum aus richten die Astronomen die Teleskope per Computer auf gewaltige Sternsysteme, so genannte Galaxien. Manche sind mehr als 13 Milliarden Lichtjahre entfernt. Das Licht war also mehr als 13 Milliarden Jahre unterwegs, um seine Information in einer chilenischen Wüstennacht auf der Erde abzuliefern. Das Licht hat sich auf den Weg gemacht, lange bevor die Sonne und die Erde entstanden sind. So ist jeder Blick weit hinaus ins All zugleich ein Blick weit zurück in die Vergangenheit.
Dunkle Energie
Was die neuen alten Daten über das Universum verraten, verblüfft selbst Experten wie Bruno Leibundgut: "Die Entdeckung ist im Wesentlichen, dass 70 Prozent des Universums in einer Form vorhanden sind, die wir bis jetzt nicht gekannt haben. Das wird oft als Dunkle Energie bezeichnet.“ Diese Dunkle Energie komme zusätzlich zur Dunklen Materie hinzu, für die die Physik eigentlich auch noch keine Erklärung habe, so der Ingenieur weiter. „Jetzt haben wir auch noch die Dunkle Energie! Dunkle Energie und Dunkle Materie zusammen entsprechen so etwa 95 Prozent des Universums. Und die Physik hat keine Erklärung für - beide.“ Bei dieser Erklärung huscht ein Lächeln über das Gesicht des Astronomen. Die Natur hat es den Forschern wieder einmal gezeigt: Irgendetwas beherrscht den Kosmos - und niemand weiß, was physikalisch dahinter steckt.
Die Astronomen arbeiten auf Paranal an ganz grundlegenden Fragen. Woraus besteht das Universum? Was genau ist die Dunkle Energie? Wird sich der Kosmos ewig ausdehnen? Antworten darauf bekommen die Forscher nur durch noch bessere Beobachtungen - und durch gute Ideen, hofft Bruno Leibundgut: "Die Brocken für die Physik sind im Moment da - wir haben 95 Prozent des Universums, die wir einfach nicht verstehen: Das ist eigentlich eine interessante Situation. Vielleicht haben wir in zehn Jahren eine Theorie, die das alles erklärt - aber es braucht einen Durchbruch, das brauchen wir jetzt schon."
Nach den Sternen greifen
Praktisch aller Fortschritt der Astronomie beginnt irgendwann einmal mit einer klaren Nacht an einem Teleskop. Wer, "nach den Sternen greifen will", wer wirklich tief ins All blicken will, wer unmittelbar sehen will, was da draußen passiert, der muss auf Berge wie den chilenischen Paranal reisen, weiß Bruno Leibundgut: „Das ist wirklich für mich in der beobachtenden Astronomie etwas vom Schönsten. Die Konzentration finde ich sonst nirgends. Ich habe Sternwarten auch schon mit Klöstern verglichen. Also dass man sein ganzes Leben - in dem Fall nur für ein paar Tage - aber nur für etwas einrichtet und alles andere sekundär wird. Das sind einmalige Erlebnisse.“
Autor: Dirk Lorentzen
Redaktion: Stephanie Gebert