Die Benjamins: eine Jahrhundert-Familie
25. März 2014Einige von ihnen standen im Rampenlicht, ihr Schatten ließ die anderen Familienmitglieder fast unsichtbar werden. Walter war wohl der berühmteste unter den Benjamins. Jener brillante Philosoph, der mit seiner Sprachskepsis und seinen Abhandlungen über moderne Reproduktionstechniken wie Fotografie bis heute Diskurse prägt. Seine Schwägerin Hilde ist nicht wegzudenken von der politischen Bühne des Kalten Krieges. Sie war in den 50er und 60er Jahren Justizministerin der DDR, verschrien als die "Rote Hilde".
Familiensage und Geschichtsbuch
Uwe-Karsten Heye versucht hinter diese ikonografischen Bilder zu blicken und jeden einzelnen Benjamin einzubetten in ein familiäres Gefüge und in einen historischen Kontext. Sein Buch "Die Benjamins" ist Familiensaga und Geschichtsbuch zugleich. "Sie hatten den großen Vorteil, dass sie sowohl vor als auch nach 1945 eine große Rolle spielten", erklärt der Journalist und Autor. "Ich wollte einen Blick auf diese Zeit werfen und entlang der Lebenswege der einzelnen Familienmitglieder ein Stück deutsche Geschichte erzählen."
Diese beginnt recht großbürgerlich im Berlin der 20er Jahre. Die Benjamins sind eine wohlhabende, jüdische Familie. Geld und Renommee sind reichlich da, im Gegensatz zu Liebe und Zuwendung gegenüber den drei Kindern. Walter, Georg und Dora wachsen mit großen Altersunterschieden wie Einzelkinder auf.
Es ist die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Die Straßen sind voll mit bettelnden ehemaligen Soldaten, die Arbeitslosigkeit lässt die soziale Schere immer weiter auseinanderdriften. "Dieses Elend der Nachkriegszeit prägt die Benjamin-Kinder und führt sie alle drei nach links", sagt Uwe-Karsten Heye.
Zerrissen wie die Gesellschaft
Während Walter seinen Traum von einer klassenlosen Gesellschaft intellektuell in Salons durchdekliniert, arbeitet sein jüngerer Bruder Georg als Kinderarzt im Arbeiterbezirk Wedding. Seine Schwester Dora untersucht wissenschaftlich die Lebenssituation von Fabrikarbeiterinnen. Alle drei wenden sich vom bourgeoisen Elternhaus ab. Die sozialen Widersprüche der Zeit spiegeln sich auch in der familiären Zerrissenheit der Benjamins wider.
1933 wird für alle zum Schicksalsjahr. "Georg wird unmittelbar nach dem Reichstagsbrand verhaftet, zusammen mit Tausenden anderen Kommunisten und Sozialdemokraten", erklärt Uwe-Karsten Heye. Ein Warnschuss für die Geschwister. Walter und Dora fliehen vor dem Nationalsozialismus und dem immer größer werdenden Judenhass in Deutschland nach Paris. Im Exil schreibt der mittellose Intellektuelle über Baudelaire, wird finanziell von amerikanischen Freunden über Wasser gehalten.
Briefe aus dem Familienarchiv
Nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Frankreich versucht Walter, über Spanien zu ihnen in die USA zu gelangen. Vergeblich! Am Fuße der Pyrenäen scheitert der Plan. Um sich der Festnahme und Auslieferung an die Gestapo zu entziehen, greift Walter zu einer Überdosis Tabletten und bringt sich um. Auch seine Schwester stirbt einsam im Exil. Der Bruder Georg kommt auf grausame Weise im Stacheldrahtzaun des Konzentrationslagers Mauthausen um.
Uwe-Karsten Heye rekonstruiert die einzelnen Lebenswege nicht nur anhand bereits bekannter Quellen. Er konnte auch erstmals auf das Familienarchiv der Benjamins zurückgreifen. "Die inzwischen 80-jährige Schwiegertochter Georg Benjamins hat mir den gesamten Nachlass geöffnet", sagt Uwe-Karsten Heye voller Stolz. Unbekannte Fotos, persönliche Briefe kamen zum Vorschein. Allen voran jene, die Georg aus der Gefangenschaft an seine Frau und seinen Sohn schrieb.
"Liebe Hilde, Du musst jetzt versuchen, eine ganz selbstständige Lebensführung zusammen mit unserem Jungen [...] zu finden. […] Mein Jungchen, unser Mischa, wird mich vorerst langsam vergessen müssen."
Frau zwischen Fronten
Es ist genau dieser langsame, schmerzliche Abschied, der Hilde Benjamin für ihr Leben prägen wird. Sie überlebt mit ihrem Sohn Michael den Krieg. Die Chancen für einen Neuanfang sieht die überzeugte Kommunistin nur in der DDR. Hier wird sie Richterin und später zur Justizministerin. In ihr steckt der Furor des Verlustes. Sie beginnt einen gnadenlosen Kampf gegen all jene Faschisten, die ihr einst den Mann und die Freunde nahmen. Sie führt politische Schauprozesse gegen sogenannte "Klassenfeinde" und unterschreibt zwei Todesurteile.
Uwe-Karsten Heye will davon in seinem Buch nicht allzu viel wissen. Man merkt seinen Ausführungen an, welch große Sympathie er für Hilde Benjamin hegt. Mehr noch - sie war für ihn der Ausgangspunkt für die gesamte Familienbiografie. "Man darf nicht vergessen - es herrschte zu jener Zeit der Kalte Krieg. Und sie war Teil dieser Ost-West-Auseinandersetzung", meint der Autor.
Empathie als Erklärungsmuster
Die braunen Seilschaften in der Bundesrepublik hätten versucht, diese starke Frau mit Bezeichnungen wie "Bluthilde" zu diffamieren, um von ihrer eigenen Vergangenheit abzulenken. "Ich wollte diese Frau wenigstens verstehen, was nicht heißt, dass ich sie rechtfertigen will."
Genau diese Empathie durchdringt dieses Buch. Der distanzierte, analytische Blick ist nicht Uwe-Karsten Heyes Sache. Immer wieder macht sich der Autor selbst zum Sujet seiner Annäherung. Er wandert den Fluchtweg Walter Benjamins über die Pyrenäen nach, besucht das KZ, in dem Georg Benjamin starb. Die authentische Erfahrung soll der historischen Vergewisserung dienen.
"Aber dann, zusammen mit einigen hundert Besuchern an diesem Tag, ist man plötzlich eingereiht und wird zu einer der Elendsgestalten, die halb verhungert vor mehr als siebzig Jahren aus den Eisenbahnwaggons am Bahnhof von Mauthausen kletterten oder einfach herunterfielen und mit gebrüllten Befehlen zu den Marschkolonnen zusammengetrieben wurden, die den Weg auf den Berg nehmen mussten."
Brücke zur Gegenwart
Doch dieser allzu persönliche Zugang irritiert, wirkt oftmals wie eine subjektive Nabelschau. "Die Protagonisten meines Buches sind alle tot", erklärt Uwe-Karsten Heye. "Ich wollte so von ihnen erzählen, dass eine Brücke zum Leben heute geschlagen wird. Es sollte nicht zu einer Anhäufung von Geschichte kommen."
Die hehre Absicht in allen Ehren, aber die Sorge scheint unbegründet. Die Geschichte der Benjamins hätte keines persönlichen "Verstärkers" bedurft. Sie ist so außergewöhnlich, dass sie auch nach Jahrzehnten aus sich selbst heraus strahlt und berührt.