Bibliothekskonzepte für die Zukunft
2. November 2015Der Lärmpegel ist hoch, die Stimmung fröhlich. Ein Stimmengewirr aus unzähligen Sprachen füllt den fensterumsäumten Eckraum der Kölner Volkshochschule, direkt gegenüber der Stadtbibliothek. Ein "Sprachraum" hat hier eröffnet, als interkultureller Treffpunkt für Flüchtlinge und alle, die sich die deutsche Sprache noch erobern müssen. Hier kann jeder das kostenlose Angebot der Stadtbibliothek Köln in Anspruch nehmen, am Computer bildgestützte Audio-Lernprogramme durchackern oder sich klassische Lernbücher und Sprachspiele ausleihen.
Vor einem Regal mit Kinderbüchern sitzen zwei junge Nordafrikaner – vielleicht 17, 18 – und blättern neugierig in dem Bilderbuch "Wir kaufen ein". Neben der Zeichnung von einem Marktstand ist jedes Obst und Gemüse einzeln mit seinem deutschen Namen aufgeführt: Apfel, Aprikose, Pflaume, Kartoffel, Walnuss. Deutsch lernen, wie es für Vorschulkinder gedacht ist, hilft auch den jungen Flüchtlingen. "Gurke", sagt der eine lachend und zeigt auf das Bild. "Cucumber", gibt der andere zurück. Schon ein Wort gelernt.
Willkommensgruß auf Youtube
Dieser "Sprachraum" ist als zentraler Anlaufpunkt konzipiert. Mehrsprachige Lesungen gibt es hier, Lernmaterial in allen Sprachen von Arabisch bis Kurdisch, und Platz, um sich zu treffen. Lernpaten helfen syrischen, afghanischen und rumänischen Familien, sich in der Stadt und in Deutschland zurechtzufinden.
Junge Schüler der benachbarten Kaiserin-Augusta-Schule präsentieren das Ergebnis ihrer AG Reli (Religion sagen die Lehrer dazu): Sie haben Worte und kurze Sätze, die Flüchtlingskinder gleich nach ihrer Ankunft in Deutschland gut brauchen können, aus Gummibärchen und Lakritz gelegt. Als Videoclip bei Youtube versteht das jedes ausländische Kind sofort als herzliches Willkommen. Stolz auf die gelungene Präsentation ihrer Idee, beantworten sie danach geduldig Fragen neugieriger Besucher.
"Makerspace" – Versuchslabor für Ideen
Die Stadtbibliothek Köln ist mit ihren guten Ideen längst in ganz Deutschland bekannt geworden. 2015 wurde sie als "Bibliothek des Jahres" ausgezeichnet: für ihren Mut zu ungewöhnlichen Medienprojekten und der Strategie, aus einer reinen Buchausleihstation einen interkulturellen Begegnungsort zu machen. Die Idee ist nicht neu: das Konzept des "Makerspace" kommt aus den USA und vor allem aus Skandinavien. In Finnland und Dänemark haben öffentliche Bibliotheken einen ganz anderen Stellenwert als in Deutschland: Sie sind Wissenspeicher für jedermann.
Eine gutgeführte Bibliothek in jeder Kommune gehört in Dänemark zur gesetzlich verordneten Grundversorgung aller Bürger – auch der Migranten. Und daran wird nicht gespart, wie bespielsweise in Deutschland, wo viele Stadtteilbibliotheken schließen müssen. Bildung ist im Wohlfahrtsstaat Dänemark Zukunftsvorsorge für die nächsten Generationen. In Skandinavien sind dadurch lebendige, attraktive Orte entstanden, an denen das Ausleihen von Büchern und Medienträgern fast zur Nebensache geworden ist.
Bücher sind kaum zu sehen
DOKK 1 heißt das staunenswertes Vorzeigeobjekt dieser völlig neu konzipierten Bibliotheksbauten in Europa: Andockstation für alle Wissenshungrigen. Die zentrale Hauptbibliothek von Aarhus, einer industriellen Hafenstadt in Dänemark, funktioniert als sozialer Treffpunkt für alle Bürger. 2017 wird Aarhus Kulturhauptstadt Europas, das gesamte Hafenareal wurde dafür städtebaulich und architektonisch vollkommen neu konzipiert. DOKK 1 liegt dort wie eine futuristische Weltraumstation: rund um die Uhr offen und magnetischer Treffpunkt für Jung und Alt. Die Transformation zum modernen Wissenszentrum ist perfekt gelungen.
Hier kann man nicht nur Bücher, CDs und DVDs ausleihen, sondern auch seinen Pass verlängern, die Steuererklärung abgeben oder einen Führerschein ausstellen lassen. Die größte öffentliche Bibliothek Skandinaviens – vor wenigen Monaten erst eröffnet – ist Bürgerzentrum und Wissensspeicher zugleich. Wartezeiten verbringen die Nutzer mit Lesen, Studieren oder anderen Wissensformaten, alles sehr unbürokratisch.
DOKK 1 erschließt der Stadt Aarhus ganz neue Benutzerschichten. Kinder aller Altersgruppen kommen hier auch ohne Eltern hin. Alles ist kostenlos nutzbar und nach neustem technischen Standard ausgestattet, vom Computerspiel bis hin zum 3-D-Drucker. Auch gemütlich in Krimis schmökern oder Musikhören und am Computer Schachspielen gehört ebenso dazu, wie das Studieren teurer Fachbücher.
Freiraum für Kreativität
"Die Bibliotheken der Zukunft müssen auch ohne sichtbare Medien und Bücher in der Lage sein, die Menschen wirklich zu inspirieren", konstatiert Knud Schulz, Chef-Manager des beeindruckenden Bibliothekneubaus, bei einem Rundgang durch den gut durchdachten Neubau. Mehr als zehn Jahre haben Planung und Umsetzung im großen Team gedauert. Überall ist viel Raum für Begegnungen und Austausch entstanden: Eltern-Kind-Bereiche, Spielräume zum Toben, Leseplätze mit Blick auf den Hafen, aber auch Ruhezonen zum Studieren geben dem Haus den Charakter einer weltoffenen Begegnungsstätte.
Direktor Knud Schulz sieht im lebenslangen Lernen und einem generationsübergreifenden Wissensaustausch auch die Zukunft - und die Hauptaufgabe seiner Bibliotheksarbeit. Selbst ein Repair-Cafe mit Nähmaschinen und Profi-Werkzeug gehört zur Grundausstattung von DOKK 1, präsentiert er stolz. Jüngere könnten dort von Älteren lernen, wie man einen defekten Toaster repariert, statt einen neuen zu kaufen, fügt er lachend hinzu. "Wissen formiert sich in Räumen, die zwischenmenschlichen Begegnungen zuarbeiten." Ein Konzept, mit dem auch die Stadtbibliothek Köln mittlerweile gute und für deutsche Verhältnisse wirklich zukunftsorientierte Erfahrungen gemacht hat. An solchen inspirierenden Orten macht Wissensaneignung Spaß.