"Die EU muss der Türkei und Armenien weiterhelfen"
27. April 2005DW-RADIO/Türkisch: Welche Schritte wären Ihrer Meinung nach für die Lösung der Armenier-Frage nötig?
Hrant Dink: Ich glaube nicht, dass die strittige Frage der Vergangenheit gelöst werden kann. Denn das was passiert ist, ist eben geschehen. Da gibt es auch nichts mehr zu lösen. Das Problem der Einsicht steht heutzutage im Vordergrund. Das ist auch das Problem der Türkei. Für die Armenier dagegen spielt die Tragödie eine große Rolle. Sie müssen nicht das Problem der Einsicht bewältigen, sondern sie müssen sich von der Problematik der Tragödie losreißen. Hier gibt es nur einen Weg der Vergangenheitsbewältigung. Beide Seiten müssen einfach über die Vergangenheit reden. Die Lösung des Armenien-Türkei-Problems ist nicht eine Frage der Geschichte, sondern ist eine Problematik der Politik. Armenien und die Türkei sind Nachbarstaaten. Zuallererst müssen die Nachbarschaftsverhältnisse wieder vorangetrieben werden.
Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan und Oppositionsführer Deniz Baykal versuchen, neue Lösungsansätze zu finden. Wie beurteilen Sie ihre Bemühungen?
Herr Baykal und Herr Erdogan, also sowohl die Regierung als auch die Opposition, öffnen sich dem Thema. Aber andere Organisationen des Landes kommen immer wieder mit neuen Erklärungen, die von den Armeniern schwer zu akzeptieren sind. Die Armenier dagegen werten diese neuen Ansichten über die Vergangenheit als einen Angriff, als ungerecht, und als Verleumdung der Geschichte. Die Armenier erwarten ein Geständnis, beobachten jedoch, dass sich einiges in Richtung Verleumdung entwickelt. Wir versuchen hier zu erklären, dass die Begriffe Geständnis und Verleumdung heutzutage nicht benutzt werden sollten. Heutzutage müssen wir uns auf den Begriff "Einsicht" konzentrieren.
Welche Rolle sollte die EU ihrer Meinung nach in den Beziehungen zwischen Türken und Armeniern spielen?
Diejenigen die Geschichtsbücher lesen, wissen es. Die Europäer hinterfragen erst heute ihre Vergangenheit. Wenn wir uns Deutschland, Frankreich und andere Länder anschauen, beobachten wir, dass sie erst jüngst angefangen haben, ihre Vergangenheit zu hinterfragen. Das kommt jedoch spät. Und doch muss das gemacht werden. Aber ein Parlamentsbeschluss reicht da nicht aus und damit können sie auch von ihrer Verantwortung nicht freigesprochen werden. Die EU ist verpflichtet, das ruinierte Verhältnis wieder ins Positive zu lenken. Nur so können sie ihre Fehler wieder gutmachen. Deshalb muss die EU der Türkei und Armenien weiterhelfen. Die EU muss deutlich sagen, dass die Tür für einen EU-Beitritt von Armenien und der Türkei weit offen ist. In dieser Hinsicht müssen beide Staaten unterstützt werden. Das wird auch beide Staaten ermutigen.
Das Interview führte Kader Gülsen
DW-RADIO/Türkisch, 25.4.2005, Fokus Ost-Südost