Die freudlose Gasse
10. März 2010Soviel Aufmerksamkeit hatte es selten um einen deutschen Stummfilm gegeben. Als "Metropolis" bei der Berlinale wiederaufgeführt wurde, sah die gesamte filminteressierte Weltöffentlichkeit zu. Aber auch andere Werke der Stummfilmära werden von Museen und Archiven restauriert. Ein besonders spektakuläres Beispiel: "Die freudlose Gasse" von Regisseur Georg Wilhelm Pabst aus dem Jahre 1925. Der erschien vor kurzem in einer rekonstruierten Fassung auf DVD.
Wie Stummfilme nach Jahrzehnten mühsam wiederauferstehen, dass hat der Fall "Metropolis" eindrucksvoll gezeigt. Die "Freudlose Gasse" von Pabst hatte nicht so viel Glück. Kein sensationeller Fund in irgendeinem Filmarchiv der Erde, keine glückliche Fügung eines (Film-)Schicksals - von Pabsts Werk fehlen nach wie vor einige Sequenzen. "Die freudlose Gasse" ist immer noch ein Torso. Aber die Filmwissenschaftler haben ganze Arbeit geleistet, haben verfügbare Kopien aus aller Welt zusammengetragen, haben diese miteinander verglichen, beschädigte Filmstreifen restauriert und schließlich die zur Zeit bestmögliche Fassung montiert.
Pabsts Film war von der Zensur arg verstümmelt und erheblich gekürzt worden, vor allem aufgrund moralischer Bedenken der Filmzensoren. Der Film enthalte "entsittlichende und verrohende Tendenzen" hieß es damals. "Die freudlose Gasse" spielt zur Zeit der internationalen Weltwirtschaftskrise in den 1920er Jahren in Wien, es herrscht Inflation und Hunger. Die Schauplätze: eine Gasse im Armenviertel der österreichischen Hauptstadt, ein Metzgerladen, ein Bordell, aber auch die Foyers und Ballsäle der Luxushotels. Das Personal: Menschen am Abgrund, Arme und Verzweifelte, Prostituierte und Hungerlöhner, auf der anderen Seite: Aktienspekulanten und Börsenmakler, raffgierige und sexsüchtige Männer.
Tauschgeschäft Fleisch gegen Fleisch
Im Mittelpunkt des Geschehens steht ein Metzger, der seine Ware nur dann feilbietet, wenn ihm danach ist, vorzugsweise im Tausch gegen Sex. Außerdem ein paar junge Frauen, die sich durchschlagen müssen im Leben und dabei an den Rand des Erträglichen gehen. Das Ganze mündet im "Tauschgeschäft" Fleisch gegen Fleisch - so könnte man Pabsts Film zynisch zusammenfassen. Wer will, kann zahlreiche Parallelen zur Gegenwart entdecken. Reich und Arm, zwei Welten, die immer weiter auseinanderklaffen - nur Details haben sich geändert, nicht das Prinzip.
Die beiden Diven Asta Nielsen und Greta Garbo sind hier Seite an Seite zu sehen - die Garbo war damals noch kein Star. Sie allein ist ein Wiedersehen wert. Noch nicht so unnahbar und unterkühlt wie später in Hollywood, voll von jugendlichem Charme und mitreißender Melancholie und Eleganz, bestimmt sie den Film vor allem in der zweiten Hälfte. Die Garbo aus den 20er Jahren ist eine Offenbarung - auch nach heutigen Schönheitsidealen!
Entrüstung bei den Zensoren
Den schonungslosen Blick des Regisseurs auf den Handel mit Fleisch, Geld und Menschen wollten die damaligen Zensoren den Zuschauern nicht zumuten. "Die freudlose Gasse" wurde vor der Premiere verstümmelt, gekürzt, umgeschnitten. Das zeigen die höchst interessanten Dokumentationen, die der Edition als Extras beigefügt sind. Im Booklet der DVD kann man dann auch noch ausführlich nachlesen, wie die Arbeit der Archivare und Filmhistoriker in den letzten Jahren ausgesehen hat.
Dziga Vertovs Kameraauge
In eine ganz andere Richtung ist damals der russische Filmpionier Dziga Vertov gegangen. Berühmt wurde er vor allem 1929 mit seinem Film "Der Mann mit der Kamera". Jetzt kann man sich auch die beiden vorangegangenen Filme ansehen, "Ein Sechstel der Erde" (1926) und "Das Elfte Jahr" (1928). Vertov setzte nicht auf Inszenierung und Schauspieler, sondern auf den "objektiven" Kamerablick auf die Welt. Die Bildsequenzen wurden dann von ihm in einem forcierten Rhythmus montiert und dem Zuschauer präsentiert. "Ein Sechstel der Erde" zeigt die Völker der Sowjetunion und Asiens (deren Länder ein Sechstel der Erde ausmachen), der spätere Film die Errungenschaften der Revolution elf Jahre nach dem magischen Jahr. Doch Vertovs Blick erhebt sich über die plumpe Propaganda der Sowjets und zeigt eine ganz eigene (Film-)Realität: virtuos und rhythmisch, rasant und kühn.
Beide Filme sind mit aufschlussreichem Zusatzmaterial erschienen. Besonders beachtenswert ist der Plagiatsstreit um den Film "Das elfte Jahr". Die deutschen Regisseure Viktor Blum und Leo Lania hatten damals für ihren Montagefilm "Im Schatten der Maschine" Vertovs Werk ausgeschlachtet - ohne auf die russischen Quellen hinzuweisen. Das schlug damals Wellen in der Öffentlichkeit. Sowohl der Film der Deutschen als auch eine Dokumentation über diesen Bilderklau ist in der vorbildlich ausgestatteten DVD-Edition enthalten. So kann Filmgeschichte aussehen!
Autor: Jochen Kürten
Redaktion: Marlis Schaum
"Die freudlose Gasse" und die Vertov-Filme sind bei der "Edition Filmmuseum" erschienen, beide als Doppel-DVD, beide sind für 29,95 Euro zu haben.