Die Guerilla und die Gottesmänner
11. Juni 2013Zerstört und verstaubt. Die Statue der Jungfrau Maria in der Kirche der kolumbianischen Gemeinde "San Pablo Apostól de Bojayá" ist ein schauriger Anblick. Ihre Arme sind amputiert, ihr blaues Gipsgewand zerbröselt. Vor elf Jahren, am 2. Mai 2002, wurde die Marienfigur mit ungeheurer Gewalt vom Sockel gestoßen. Ein mit Splittern gefüllter Gaszylinder fiel auf sie herab, legte das Gotteshaus in Schutt und Asche, und riss 78 Menschen in den Tod.
Das Massaker von Bojayá steht für die Eskalation der Gewalt im kolumbianischen Bürgerkrieg, der seit 50 Jahren das südamerikanische Land verwüstet. Rund 300 Dorfbewohner hatten 2002 in der Kirche Schutz vor den Gefechten zwischen den Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens, FARC, und konterrevolutionären paramilitärischen Gruppen gesucht. Das Geschoss, das die FARC abfeuerte, stürzte über dem Kirchendach ab und verwandelte das Gotteshaus in einen Kriegsschauplatz.
Retter und Opfer
Die Kirche spielt im kolumbianischen Bürgerkrieg eine besondere Rolle: Sie ist Retter und Opfer zugleich, sie vermittelt zwischen den Kriegsparteien, leistet Friedens- und Menschenrechtsarbeit, und unterhält diskrete Verbindungen zu den Rebellengruppen FARC und ELN, der nationalen Befreiungsarmee. Doch Bischöfe, Priester und Ordensschwestern gelten nicht nur als neutrale Verhandlungspartner von Guerilla und Regierung. Sie werden selbst entführt, ermordet und ausgeraubt. In den vergangenen 20 Jahren bezahlten 60 Geistliche ihren Einsatz für Frieden mit dem Leben.
Trotz dieser bitteren Bilanz ist die Kirche die treibende Kraft hinter den Friedensverhandlungen zwischen der kolumbianischen Regierung und der FARC, die am 11. Juni in Havanna fortgesetzt werden. "Die Kirche ist die einzige Institution in diesem Land, die mit ihrer pastoralen Arbeit das ganze nationale Territorium abdeckt", erklärt der bekannte kolumbianische Politologe Jaime Zuluaga Nieto im Gespräch mit der DW. "Im Landesinneren steht sie in direktem Kontakt zu den Aufständischen", weiß Zuluaga, der das Friedensforschungsinstitut "Indepaz" in Bogotá berät. Dies sei für die Verhandlungen auf nationaler Ebene sehr wichtig.
Hinter den Kulissen
Der direkte Draht zu den Kombattanten hat nach kolumbianischen Medienberichten dazu geführt, dass Kirchenvertreter einen entscheidenden Beitrag zu den vorbereitenden Verhandlungen geleistet haben, die schließlich zur Aufnahme der Friedensgespräche im Oktober vergangenen Jahres führten. "Die Tatsache, dass die Kirche nicht am Verhandlungstisch sitzt, bedeutet nicht, dass sie nicht an den Verhandlungen teilnimmt", ließ der Erzbischof von Tunja, Luis Augusto Castro Quiroga die Nachrichtenagentur "Agenzia fides" wissen.
Der Sekretär der Versöhnungskommission der kolumbianischen Bischofskonferenz, Pater Dario Echeverri, bestätigt die Andeutungen. Die Annäherungen vor dem eigentlichen Dialog auf Kuba hätten schon viel früher begonnen als in den Medien berichtet, räumte Echeverri in einem Interview mit der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) in Bogotá ein. "Präsident Santos hat die katholische Kirche aufgefordert, die pastoralen Dialoge mit Vorsicht zu führen, diese Annäherungen, die die Kirche mit den bewaffneten Gruppen unterhält".
Die diskreten Verbindungen zwischen Geistlichen und Guerilla haben eine lange Tradition. Schon 2003 war Bischof Luis Augusto Castro Quiroga von der FARC gebeten worden, an den geheimen Verhandlungen über einen humanen Korridor für Geiseln teilzunehmen. In den Reihen der marxistisch-leninistisch geprägten ELN kämpfte von 1960 bis 1966 sogar der kolumbianische Befreiungstheologe Camilo Torres Restrepo mit. Die historischen Verbindungen halfen einer Delegation der katholischen Kirche 2003, eine Gruppe von Ausländern, darunter auch eine deutsche Geisel, die von der ELN entführt worden waren, zu befreien.
Audienz im Vatikan
Im Jahr 2001 bot der damalige Bischof der Diözese Chiquinquira, Hector Cutierrez Pobon, der ELN sogar einen Friedenspakt an. Wenn es dem Frieden diene, sei er bereit sich der Herrschaft der Befreiungsarmee zu unterwerfen, erklärte damals Cutierrez, der heute die Diözese Engativá leitet. 15 Gemeinden unterstützten die ungewöhnliche Friedensofferte des Bischofs.
Ein Jahr zuvor hatten sich die Kämpfer der FARC im Vatikan höchstpersönlich um Segen gebeten. Um den kolumbianischen Friedensprozess zu unterstützen, ließ sich das vatikanische Staatssekretariat im Februar 2000 unter größter Geheimhaltung auf eine Audienz mit Vertretern der FARC und der kolumbianischen Regierung ein. Für den ehemaligen FARC-Sprecher Rául Reyes ging mit der Reise nach Rom der lang ersehnte Traum der politischen Anerkennung in Erfüllung: "Wir wollen, dass der Heilige Vater uns segnet und uns erleuchtet, damit wir zu einer echten Versöhnung gelangen", erklärte er damals gegenüber der spanischen Tageszeitung "El País".
Nach vielen gescheiterten Versuchen wird in dieser Woche in Havanna nun erneut um die politische Zukunft der FARC gerungen. Für viele Beobachter ist dies der heikelste Punkt der gesamten Friedensgespräche. "Es muss ein Kompromiss gefunden werden, wann und wie Täter strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden", erklärt Hubert Gehring, Leiter des KAS-Büros in Bogotá. "Wie weit gehen Amnestien für FARC-Comandantes?".
Wahrheit und Gerechtigkeit
Hat Gerechtigkeit Vorrang vor politischer Beteiligung? Nach Einschätzung der kirchlichen Hilfswerke Adveniat und Misereor wird die Rolle der Kirche bedeutend, wenn es zu einem Friedensbeschluss kommen sollte. "Die Kirche ist beim Thema Versöhnung gefragt", meint Susanne Breuer, Kolumbienreferentin von Misereor. Bei der Abwägung zwischen Wahrheit und Gerechtigkeit müssten Opfer und Täter aufeinander zugehen.
Während auf Kuba die zweite Runde der Friedensverhandlungen beginnt, geht der Kampf zwischen Rebellen, Regierungstruppen, Paramilitärs und Drogenmafia im Land selbst weiter. In Bojayá kämpft Schwester Maria del Carmen Garzón, die das Massaker vor elf Jahren überlebt hat, noch immer um Entschädigung für die Opfer. Der kolumbianische Kreuzweg scheint unendlich zu sein.