Die homosexuelle Revolution der chinesischen Genossen
11. Februar 2006Es ist ein Geheimnis, wenn auch inzwischen ein offenes. In China leben schätzungsweise 40 Millionen "Genossen". Die meisten von ihnen verschweigen ihre Homosexualität und landen sogar im Hafen der Ehe. Denn keine Nachkommen in die Welt zu setzen, gilt als die schlimmste Sünde gegen die Familie - das wichtigste gesellschaftliche Element in China.
Die 34-jährige Frau Wang Fei, die aus Nordchina stammt, ist geschieden und erzieht ihre zwei Kinder allein. "Wir entwickeln uns nach bestimmtem Vorbild", erzählt sie: "Zuerst studieren, dann arbeiten, sich in jemanden verlieben, heiraten, Kinder bekommen. So ist unser Leben. Ich habe früher nie daran gedacht, von dieser Lebensbahn abzuweichen, obwohl ich mir schon mit 14 oder 15 Jahren eine 'Schwester' wünschte. Eine Schwester, mit der ich ins Bett gehen konnte."
Homosexualität = Geisteskrankheit?
Homosexuelle wie Frau Wang, die sich selbst nicht frühzeitig dazu bekennen können oder dürfen, gibt es viele. Noch Ende der 1990er Jahre wurde ein deutscher Korrespondent an eine psychiatrische Einrichtung verwiesen, als er nach Experten für Homosexualität fragte (Kai Strittmatter, "Gebrauchsanweisung für China"). Im April 2001 wurde Homosexualität zwar endlich aus der chinesischen Liste der Geisteskrankheiten gestrichen. Doch ist man in China nach wie vor weit davon entfernt, von der Norm abweichendes Sexverhalten als normal zu betrachten.
Die Gleichberechtigungsbewegung der chinesischen Homosexuellen sei eine Revolution, die auf drei Ebenen stattfindet, meint die Sozialwissenschaftlerin Li Yinhe in ihrem Weblog: Revolution gegen die traditionelle Familie, gegen das normale Sexverhalten und nicht zuletzt gegen den Demokratie-Defizit. Als Beispiel nennt sie das von Peking verbotene Gay Festival.
Outing mit Folgen
Cui Zi-en, Professor der Pekinger Filmakademie, hatte das Festival für Ende 2005 geplant. Der Autor und Regisseur, der 2001 den DW-Literaturpreis gewann und sich mit experimentellen Spielfilmen auf der Berlinale 2003 hervortat, hatte sich als erster in China als Schwuler geoutet - und zahlte dafür einen hohen Preis. Seither sind ihm viele Lehrveranstaltungen entzogen worden.
Chinas staatliche Fernsehgesellschaft CCTV hat 2005 erstmals eine Sendung zum Thema Homosexualität und Aids ausgestrahlt - eine sehr gelungene Sendung, wie Cui meint: "Diese Sendung hat landesweit breite Diskussionen ausgelöst und wurde von vielen als ein positives Signal für Toleranz empfunden. Erst aber dann als die Behörde unser Festival verhinderte, sind uns die wirklichen Positionen der Regierung klar geworden."
Tödliche Ideologie
"Wenn man in China von Homosexualität redet, darf das Thema Aids nicht fehlen. Sonst gibt es ein Problem", sagt Cui. Der Grund dafür sei ganz einfach: "Die internationalen Organisationen unterstützen China mit starken finanziellen Mitteln zur Aids-Bekämpfung. Das Geld ist für die Regierung sehr wichtig. Wenn sie Geld bekommt, kann die Zensur ein wenig gelockert werden."
Die Schwulen im Reich der Mittel gelten als extreme Risikogruppe. Die HIV-Infektionsrate liegt zwischen zwei und fünf Prozent - wesentlich höher als im internationalen Vergleich. Prof. Zhang Bei-Chuan von der Qingdao Universität hat bei einer Untersuchung der jungen, gut ausgebildeten und in großen Städten lebenden Schwulengruppen herausgefunden, dass 60 Prozent der Befragten an Depressionen leiden und 30 bis 40 Prozent suizidgefährdet sind. Ideologie kann manchmal tödlich sein.
Die chinesischen "Genossen" haben eine Revolution noch vor sich. Dafür steht auch das bekannte Zitat von Sun Zhongshan, dem großen Revolutionsvater Chinas: "Die Revolution hat noch nicht gesiegt, Genossen, lasst uns zusammen kämpfen."