"Die Jemeniten sind in ihrem Land gefangen"
17. Mai 2017DW: Herr Zentel, Sie sind Ende März, Anfang April im Jemen gewesen. Wie sah die Situation dort aus? Das Rote Kreuz spricht von mindestens 184 Menschen, die an der Durchfallerkrankung Cholera gestorben sind, und warnt vor einer Epidemie. Wie ist es dazu gekommen?
Die Cholera-Epidemie ist nur ein Ergebnis eines seit über zwei Jahren andauernden Konflikts, der Millionen Menschen vertrieben hat. Wir sprechen von dreieinhalb Millionen, die innerhalb des Landes vertrieben wurden. Zwei Drittel der Bevölkerung sind auf externe Hilfe angewiesen, um zu überleben. Eine halbe Million Kinder sind unterernährt.
Durch den Konflikt ist der öffentliche Sektor zusammengebrochen. Es gibt keine funktionierende Müllabfuhr mehr, die Wasserversorgung ist ebenso ein Problem wie die Stromversorgung und die Abwasserentsorgung. In Aden, im Süden des Landes, wird das Ganze dadurch erschwert, dass heftige Kampfhandlungen stattgefunden haben. Die Stadt war zunächst von den Huthi-Rebellen besetzt und wurde dann durch die Truppen von Präsident Hadi mit internationaler Unterstützung zurückerobert. Aden ist stärker zerstört als die Hauptstadt Sanaa.
Das Gesundheitswesen ist völlig zusammengebrochen. Vor dem Krieg war die Gesundheitsversorgung an vielen Stellen kostenlos. Jetzt muss sie - wenn überhaupt noch vorhanden - bezahlt werden. Millionen Menschen haben aber kein Einkommen mehr. Der Privatsektor existiert nicht mehr, öffentliche Aufträge fehlen. Die Kaufkraft fehlt und das Geld für Importe. Dabei wurden 90 Prozent der Grundnahrungsmittel im Jemen importiert. Das Defizit jetzt führt zu einer schweren Unterernährung vieler Kinder und einer Mangelernährung vieler Erwachsener.
Durch die problematische Wasserqualität und die mangelnde gesundheitliche Versorgung nimmt der Krankenstand immer weiter zu. Ein Ergebnis ist der Cholera-Ausbruch jetzt. Es ist nicht der erste im Jemen. Letztes Jahr hatten wir die Situation schon einmal. Damals konnte die Cholera eingedämmt werden. Jetzt scheint sich eine wesentlich größere Dimension abzuzeichnen - wir sprechen von 2500 Verdachtsfällen.
Kann eine Cholera-Epidemie noch verhindert werden und was wäre dazu nötig?
Zum einen geht es um Vorbeugung: "Care" hat im Rahmen von Programmen zur Cholera-Bekämpfung Hygienepakete verteilt: Seife und Waschmittel beispielsweise oder auch Schüsseln, damit sich die Menschen die Hände waschen können. Außerdem geben wir Hygiene-Kurse, zum Beispiel in Schulen. Problematisch sind aber auch die sanitären Einrichtungen wie Latrinen. Wir ergreifen vorbeugende Maßnahmen, die dazu beitragen sollen, dass Erkrankungen nicht so stark zunehmen oder vielleicht gar nicht erst auftreten.
Den bereits Erkrankten müssen Behandlungsmöglichkeiten angeboten werden. Dazu bedarf es entsprechender Medikamente, Infusionslösungen und natürlich der Unterstützung des Gesundheitssystems. Die Ärzte müssen die Medikamente bekommen, sie selbst müssen aber auch finanziert werden. Man kann nicht erwarten, dass die Leute das alles selbst machen. In Aden arbeiten viele Ärzte vormittags kostenlos in einer Klinik. Am Nachmittag behandeln sie in kleinen Privatpraxen gegen Geld, um sich selbst ernähren zu können.
Wie genau hilft Ihre Organisation?
"Care" ist vor allem im Bereich Vorsorge tätig. Wir geben zum Beispiel Hygiene-Schulungen. Wir sorgen für sauberes Trinkwasser und arbeiten im Sanitärbereich daran, dass eine Ausbreitung der Krankheit verhindert wird. Als ich jetzt da war, begann gerade die Regenzeit. Dadurch breiten sich Fäkalien - und damit Keime - weiter aus. Durch zerbrochene Rohrleitungen wird der ganze Dreck rausgeschwemmt. Damit besteht auch immer die Gefahr, dass bislang saubere und sichere Trinkwasserquellen - wenn sie nicht geschlossen sind - kontaminiert werden.
Tut die Regierung etwas, um den Cholera-Ausbruch einzudämmen?
Das Gesundheitsministerium hat internationale Organisationen um Hilfe gebeten. Das zeigt, dass da keine Ressourcen mehr vorhanden sind. Den etwa zwei Millionen Beschäftigten im staatlichen Bereich wurden seit acht Monaten keine Gehälter gezahlt. Einer unserer Mitarbeiter im Jemen sagt, dass sein Gehalt vor einem halben Jahr noch für sich und seine Familie reichte. Inzwischen muss sein Gehalt drei Familien ernähren. Man hat also nicht nur niedrigste Einkommen. Es kommen auch noch Verwandte, die durch Kampfhandlungen vertrieben wurden. Sie müssen irgendwie mitversorgt werden. Das ist keine gute Basis, um ein öffentliches System am Laufen zu halten.
Mehr als zwei Jahre Bürgerkrieg, etwa 10.000 Tote und Millionen Menschen auf der Flucht: Wie sehen Sie die Zukunft für den Jemen?
Ich bin aus verschiedenen Gründen wenig optimistisch. Wir haben zum einen diesen Konflikt, der an sich schon sehr komplex ist und länger zurückliegende Gründe hat. Hinzu kommen internationale Verquickungen mit benachbarten Ländern, die auf Anforderung des offiziell anerkannten Präsidenten interveniert haben. Zudem ist das Interesse der Internationalen Gemeinschaft am Jemen sehr bescheiden. Das liegt vor allem an der geographischen Lage.
Und es gibt keine Flüchtlingsströme, denn die Grenze zu Saudi-Arabien ist abgesperrt. Nebenan liegt der Oman, dann ist da das Meer und gegenüber liegt Somalia - wo sollen die Menschen hin? Die Jemeniten sind in ihrem Land gefangen.
Früher sind die Männer jedes Jahr für eine paar Monate ins Nachbarland Saudi-Arabien gereist, um dort als Arbeitsmigranten Geld zu verdienen. Die Männer in den Dörfern haben mir erzählt, dass sie mit diesem Einkommen und dem, was von den Feldern kam, auskamen. Diese Möglichkeit gibt es nicht mehr und in den Städten gibt es kaum noch Einkommensmöglichkeiten. Ich befürchte, dass es den großen Impuls von außen, den es wahrscheinlich bräuchte, um Frieden im Jemen zu schaffen, in nächster Zeit nicht geben wird.
Karl-Otto Zentel ist seit 2012 Generalsekretär der Hilfsorganisation "Care". Zuvor war er Geschäftsführer des Deutschen Komitees für Katastrophenvorsorge. Er ist studierter Afrikanist und Islamwissenschaftler und ist kürzlich durch den Jemen gereist.
Das Gespräch führte Nastassja Shtrauchler.