Die "Wolfsgesellschaft" in Buchenwald
11. April 2015Der Krieg ist noch nicht zu Ende, doch die Überlebenden des Lagers sind sich einig. Der Kampf sei erst vorbei, "wenn auch der letzte Schuldige vor den Richtern der Völker steht," schwören sie am 19. April 1945, eine Woche nach der Befreiung. Rund 21.000 Lagerinsassen zählen die Amerikaner, als sie vier Wochen vor Kriegsende mit Panzern am Ettersberg bei Weimar auf ein ganz besonderes Konzentrationslager der Nazis stoßen: Buchenwald. Insgesamt rekonstruieren die Historiker mehr als 56.000 Tote in dem Internierungslager, in dem rund 266.000 Menschen zwischen 1937 und 1945 gefangen gehalten werden. Die Stätte des Grauens umfasst 46 Hektar, später sogar 190 Hektar, eine Stadt so groß wie Wuppertal und eingezäunt.
748 Männer, Frauen und Kinder sterben noch, nachdem die amerikanischen Soldaten Buchenwald unter ihre Kontrolle bringen. Unter den Nazis werden die Gefangenen erschossen, sie sterben an den Torturen der Sklavenarbeit oder werden einfach "weggespritzt". Dabei ist Buchenwald kein reines Vernichtungslager wie Auschwitz-Birkenau. Es ist vor allem ein Arbeitslager für die Rüstungsindustrie mit einer spezifischen Aufpasser-Häftlings-Struktur. Im täglichen Überlebenskampf sind nicht nur die SS-Schergen der Feind, sondern auch die Kapos, Häftlinge mit sogenannten Funktionsaufgaben zum Beispiel in der Verwaltung. Ein perfides System innerhalb der Lagergesellschaft, das Misstrauen, Angst und Neid sät. Die Grenzen zwischen Opfer und Täter sind aufgehoben.
Ein KZ als Industrieanlage
Das Konzentrationslager Buchenwald entsteht 1937. Es ist bis Kriegsende das größte KZ auf deutschem Boden. Juden, Sinti und Roma werden hier interniert, Kommunisten, aber auch sogenannte "Gemeinschaftsfremde". Zu denen zählen die Nazis Homosexuelle, Wohnungslose, Zeugen Jehovas und Vorbestrafte. Politische Gegner der Nazis werden in Buchenwald rot gekennzeichnet, Kriminelle sind an grünen Wimpeln erkennbar. Emigranten sind blau, Schwule rosa markiert. Anders als Auschwitz-Birkenau ist Buchenwald von Anfang an ein Arbeitslager. Hier werden kriegswichtige Rüstungsgüter hergestellt. Etwa ein Viertel aller Maschinengewehre für das Heer wird in Buchenwald produziert. In einem der vielen Außenlager, in Dora bei Nordhausen, graben rund 60.000 KZ-Häftlinge Stollenanlagen für die Raketenproduktion, die von Peenemünde an der Ostsee hierher verlegt wurden. Jeder Dritte kommt dabei um. Doch es gibt auch privilegierte Häftlinge.
Der Kapo: Retter oder Peiniger?
Als die Amerikaner im April 1945 Buchenwald erreichen, sind sie irritiert. Neben den ausgemergelten und entkräfteten Gefangenen in ihrer dünnen, gestreiften Häftlingsmontur kommen ihnen auch wohlgenährte und gut gekleidete Lagerinsassen entgegen, die nicht der SS angehören. Es sind die anderen Häftlinge, die Kapos. Sogenannte Funktionshäftlinge. Ihnen werden besondere Aufgaben von der SS zugewiesen. Zum Beispiel der Lagerschutz, eine Art Polizei im KZ. Auch in der Verwaltung oder in der Kleiderkammer werden sie eingesetzt. Sie haben Privilegien, bekommen mehr zu essen, dürfen sich freier bewegen und haben warme Kleidung im Winter. Sie sind eine Autorität und bestimmen die Spielregeln im Lageralltag mit. Das Kapo-System ist eine Art Selbstverwaltung.
Die SS verfolgt mit der Kapo-Struktur eine Doppelstrategie: Einerseits schont sie in dem Riesenlager mit seinen zuletzt mehr als 130 Nebenstellen eigene Ressourcen, andererseits treibt sie mit der Hierarchisierung einen Keil in die Häftlingsgesellschaft. Die Kapos können Leben im KZ vernichten, sie können aber auch Leben retten. Sie sind die Macht neben und unter der SS. Sie können Essensrationen verdoppeln oder das Todesurteil fällen. Zum Beispiel dann, wenn es darum geht, wer für den Weitertransport in ein Vernichtungslager bestimmt wird.
Funktionshäftlinge in der Infrastruktur der "Wolfsgesellschaft"
Innerhalb der Kapo-Riege sind die Kommunisten die maßgebliche Instanz. Obwohl nur knapp zwei Prozent der Lagerinsassen den Kommunisten zugerechnet werden, sind die "K-Gruppen" eindeutig tonangebend. Etwa 600 bis 700 Häftlinge umfasst die Gruppe der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) in der Mitte des Krieges. Die SS duldet die Arbeit der Kommunisten im Lager nicht nur, sie sind gleichzeitig auch "ein nationales Ordnungsinstrument der SS zur inneren Organisation der multinationalen Lagergesellschaft", wie es der Historiker Lutz Niethammer beschreibt. Denn die große Mehrheit der Gefangenen sind Ausländer.
Die DDR und die Heroisierung der K-Gruppen
Als am 11. April 1945 die ersten US-Soldaten das Tor des KZ Buchenwald erreichen, haben die Häftlinge unter Führung der Kapos schon die Kontrolle über das Lager übernommen. Die SS-Aufseher samt Kommandant Hermann Pister waren schon Stunden zuvor geflohen. Den Amerikanern bietet sich ein überraschendes Bild: Häftlingseinheiten marschieren nach Landsmannschaften aufgeteilt über den Appellplatz, die Gefangenen-Kapelle spielt dazu die "Internationale". Es herrscht Ordnung und Disziplin unter denen, die als Funktionshäftlinge bei Gesundheit sind. Andere vegetieren teilnahmslos auf dem Boden liegend vor sich hin. Die Wolfsgesellschaft präsentiert sich den Befreiern mit all ihren Opfern, Tätern und Mitläufern.
Zunächst ist die Rede von der heldenhaften KPD-Widerstandsgruppe in Buchenwald, die Gefangene gerettet und sogar einen Aufstand erfolgreich angezettelt habe. Diese Sichtweise erweist sich später als Legende der kommunistischen Kapos. Die SED, die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands, hält diese Lesart in der jungen DDR lange aufrecht. In der DDR-Historiografie wird die Rolle der Kommunisten in Buchenwald geradezu heroisiert. Spätere Akteneinsicht zeigt ein anderes Bild. Tatsächlich sichern die K-Gruppen ihr eigenes Überleben durch ihre Mithilfe bei der Ermordung sogenannter Ersatz-Häftlinge. Angehörige der eigenen Gruppe werden gerettet und im Gegenzug andere ans Messer geliefert. Auch bei den medizinischen Experimenten auf der Krankenstation sind die Kommunisten beteiligt und somit mitschuldig am Tod derer, die regelrecht "abgespritzt", also mit der Kanüle hingerichtet werden.