Keupstraße nach der Bombe
8. Juni 2014"Es war genau wie jetzt, der Friseur stand bei seinem Kunden." Mitat Özdemir von der Initiative "Keupstraße ist überall" zeigt auf Hasan Yildirim im Friseursalon Özcan, Keupstraße 29 in Köln. Er spricht oft mit ihm und anderen Betroffenen über den 9. Juni 2004: Direkt vor dem Schaufenster stellte an diesem Sommertag ein Mann ein Damenrad ab. Im Koffer auf dem Gepäckträger war eine Nagelbombe mit mehr als fünf Kilo Schwarzpulver. Davon ahnte Friseur Hasan Yildirim nichts. Kurz traf sich sein Blick mit dem des Mannes, der das Fahrrad dicht vor die Scheibe rückte. Hasan Yildirim registrierte blonde Kotelleten unter der Baseball-Kappe. Er dachte, der Mann komme zum Haareschneiden, doch der verschwand.
Wenige Minuten später, kurz vor 16 Uhr, erschütterte eine gewaltige Explosion die Keupstraße. Die ferngezündete Bombe verwüstete den Friseursalon und die Umgebung. Auch Juwelier Metin Ilbay riss es zu Boden. Auf einem kleinen Hocker hatte er vor seinem Geschäft gesessen, 13 Meter entfernt vom Sprengsatz auf der anderen Straßenseite. In der Luft war Rauch, überall zerbarsten Scheiben. Scherben und mehr als 700 zehn Zentimeter lange Nägel schossen durch die Luft. Menschen blieben blutend liegen, andere liefen schreiend weg.
Uzay Özdag hörte zuerst den lauten Knall, dann sah er Menschen in einer großen Rauchsäule. Özdag, Inhaber einer Großbäckerei, stand mit seinem Vater und seinem einjährigen Sohn Emre fast 100 Meter entfernt, hinter dem neuen Lieferwagen seiner Firma. 21 Nägel schlugen ins Blech. Er übergab Emre seinem Vater, ging nachsehen, ob er helfen kann, erzählt Özdag. Während er sich erinnert, ringt er nach Worten: "Menschen, die schreien, die qualmende Nägel in den Körpern hatten, wie im Krieg, ein Bild des Grauens."
Juwelier Ilbay merkte im ersten Schock gar nicht, dass ihm Nägel in Oberarm und Schulter steckten. Dann spürte er Schmerzen, sah Blut an seinem Bein, ein Nagel hatte sich in den Oberschenkel gebohrt. "Ich habe ganz großes Glück gehabt", erinnert sich der heute 59-Jährige. Er atmet tief: "Hätte ich gestanden, hätten die Nägel genau den Kopf getroffen". Sie durchbohrten ein Regenwasserrohr hinter ihm. Wenn er an den Anschlag denke, sagt Ilbay, "geht meine Moral kaputt".
Der Anschlag hätte jeden treffen können
Insgesamt wurden 22 Menschen verletzt, vier von ihnen schwer. Glück im Unglück war, dass niemand getötet wurde, denn an dem warmen Nachmittag vor einem Feiertag waren besonders viele Menschen auf der belebten Straße unterwegs. Die vielen Läden von Geschäftsleuten mit türkischen Wurzeln ziehen auch Besucher aus anderen Städten an: Sie saßen vor Restaurants und Cafés, schlenderten an Boutiquen, Konditoreien, Juwelieren und Reisebüros vorbei. Der Anschlag hätte jeden treffen können. Auch der Sohn von Mitat Özdemir war nur wenige Minuten zuvor mit dem Fahrrad am Friseursalon vorbeigefahren.
Die rechtsextreme Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) verhöhnte die Opfer: "Bombenstimmung für die Keupstraße", heißt es zynisch in dem Bekennervideo, das erst im November 2011 auftauchte, nach dem Tod der mutmaßlichen Attentäter Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt. Sie hatten das Ziel, so lautet die Anklage im NSU-Prozess, "so viele Kunden und Passanten wie möglich zu töten oder zumindest zu verletzen". Videos der Täter gab es schon 2004. Eine Überwachungskamera in der Schanzenstraße, die die Keupstraße kreuzt, erfasste die Attentäter mehrfach: sowohl mit dem Bomben-Fahrrad als auch mit den Mountainbikes, auf denen sie kurz nach dem Anschlag flohen.
Verdächtigungen statt Mitgefühl
"Es ist ein Trauma", sagt Mitat Özdemir, der seit 37 Jahren in der Straße lebt. Die Initiative "Keupstraße ist überall" hat er mit vielen engagierten Kölnerinnen und Kölnern gegründet, die den Betroffenen helfen wollten. Ein Trauma ist nicht nur der Anschlag selbst, über den viele Opfer bis heute nicht sprechen können und wollen. Traumatisch waren auch die sieben Jahre danach.
Schon am Tag nach dem Anschlag erklärte der Bundesinnenminister Otto Schily, es gebe keine Hinweise auf einen terroristischen Hintergrund, sondern auf ein "kriminelles Milieu". Weder er noch sein Kollege aus Nordrhein-Westfalen Fritz Behrens besuchten die Opfer. Monatelang kamen kaum noch Kunden in die Keupstraße. Die Opfer erfuhren weder öffentliches Mitgefühl noch psychologische Hilfe, man verdächtigte sie und ihre Nachbarn.
Metin Ilbay erinnert sich, wie die Polizisten zu ihm kamen und sagten: "Können Sie den Mund aufmachen? Wir müssen Ihnen etwas abnehmen." Erst später begriff er, dass es eine DNA-Probe war, um nach Verdächtigen zu fahnden. Die Polizei durchsuchte Wohnungen, holte Anwohner zu Befragungen ab und veranlasste Prüfungen des Finanzamts. Er habe nichts zu verbergen gehabt, sagt der Juwelier, aber: "Sie haben versucht, uns das in die Schuhe zu schieben." Als ein Anwohner von rechtsextremen Tätern sprach, berichtet Mitat Özdemir, habe ein Polizist gedroht: "Ich will das nie wieder hören."
Verdeckte Ermittler und Hellseherin, Polizisten nicht befragt
Die Vernehmungen im NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages bestätigten den Eindruck der Anwohner, dass zu einseitig ermittelt wurde. In Richtung organisierter Kriminalität und türkisch-kurdischer Konflikte recherchierte die Polizei intensiv und aufwendig, mit Telefon-Überwachungen und verdeckten Ermittlern, die ein Geschäft in der Keupstraße eröffneten. Beamte reisten sogar nach München, um eine Hellseherin zu befragen. In Richtung Rechtsextremismus wurde kaum untersucht. 2008 stellte man die Ermittlungen ein.
Zwei Polizisten aber, die 2004 in der Nähe des Tatort waren, befragte man erst neun Jahre später. Die Videoaufnahmen der Täter hatte man ihnen nie gezeigt. "Diesen Fall hätte man aufklären können", sagt Clemens Binninger im DW-Interview. Der CDU-Obmann im NSU-Untersuchungsausschuss vermutet: "Man wäre vielleicht sogar dem NSU-Trio schon sehr konkret auf die Spur gekommen. Mehr Chancen gab es danach nie mehr." Der NSU-Terror ging mit der Mordserie weiter. Zehn Menschen habe es getroffen, sagt Juwelier Ilbay, "ich hätte der 11. sein können".
"Früher habe ich nie irgendetwas Schlechtes über Deutschland gedacht. Das hat sich verändert, leider", sagt Ilbay. Er macht deutlich: "Ich bin mehr Deutscher als Türke, 43 Jahre in Deutschland, nur 16 in der Türkei." Er habe ununterbrochen gearbeitet und Steuern bezahlt. Seine Kinder und Enkelkinder haben alle einen deutschen Pass.
NSU-Nebenkläger unterstützen
Am ersten Verhandlungstag war Ilbay als Nebenkläger beim NSU-Prozess in München. Sieben Stunden habe er dort völlig angespannt gesessen. "Am nächsten Tag taten meine Zähne weh", erzählt er. "Es war schrecklich dort." Es sei ihm schwer gefallen, die Hauptangeklagte Beate Zschäpe anzusehen, "locker, mit Kaugummi im Mund, lachend, mit ihrem Rechtsanwalt flirtend". Sie hätte Getränke bekommen, "als wenn sie im Café sitzt".
35 Nebenkläger hat das Oberlandesgericht München zum Anschlag auf der Keupstraße im NSU-Prozess zugelassen. Die Initiative "Keupstraße ist überall" will sie zum NSU-Prozess nach München begleiten und knüpft Kontakte zu Gruppen in anderen Städten. Metin Ilbay findet das sehr gut, denn die Betroffenen fühlten sich stärker, wenn sie sähen, "da ist eine Initiative hinter unserem Rücken".
Sehnsucht nach Respekt und Begegnungen auf Augenhöhe
Endlich etwas zusammen tun, auf Augenhöhe, das ist ein Herzensanliegen von Mitat Özdemir. Das dreitägige Fest (07. bis 09.06.2014) zum 10. Jahrestag des Anschlags unter dem Motto "Birlikte - Zusammenstehen" mit viel Prominenz reicht ihm nicht: "Was ist danach?" Er wünscht sich Aufklärung, "dass nichts mehr unter den Teppich gekehrt wird". Und er möchte, dass die Keupstraße immer mehr zu einem Ort des Kulturaustauschs wird, wo sich zum Beispiel eine deutsche Familie und eine aus Anatolien im Restaurant kennen lernen, auf Augenhöhe eben, ohne Vorurteile.
Am Abend unterhält sich Friseur Yilmaz Toprak vor dem Salon in der Keupstraße 29. Er hadert damit, wie er manchmal in Deutschland behandelt wird. Kürzlich hat er nachts zu Hause in Köln-Nippes die Polizei gerufen, weil er sich Sorgen um eine verwirrte alte Dame auf der Straße machte. Als er kurz darauf an sein Auto ging, kontrollierten die Polizisten seine Papiere und seinen Kofferraum, ganz ohne Grund. In seinem Viertel wohnen vor allem ältere Deutsche, erzählt er: "Was sollen meine Nachbarn von mir denken?" Bis zum Morgen konnte er nicht schlafen, sagt er, "ich fühlte mich gedemütigt".