Die Macht der libyschen Milizen
2. Oktober 2012Wie viele es sind, kann keiner genau sagen. Fest steht, dass in Libyen Hunderte von Milizen aktiv sind. Seit sie ihren gemeinsamen Feind Muammar al-Gaddafi gestürzt haben, bekämpfen sie sich gegenseitig. Anders als in Tunesien und Ägypten gab es in Libyen keine handlungsfähige militärische Führung, die nach Beginn der Revolution am 17. Februar 2011 schnell eine Entscheidung hätte herbeiführen können. Vielmehr zerfiel die Armee in Soldaten, die zum Diktator hielten, und andere, die zu den Rebellen überliefen. Die Rebellen organisierten sich in verschiedenen Milizen und kämpften mit Hilfe der NATO bis zum Sturz des Regimes.
Unterschiedliche Interessen
Mittlerweile bauen die Libyer einen ganz neuen Staat auf. Dabei haben sich die Milizen, die maßgeblich zum Sturz von Gaddafi beigetragen haben, zur größten Herausforderung für die Übergangsregierung entwickelt. "Wir haben es mit Milizen zu tun, die ihre eigenen Interessen verfolgen", sagt Günter Meyer, Professor für Wirtschaftsgeographie und Leiter des Zentrums für Forschung zur Arabischen Welt. "Dabei spielen die Interessen der verschiedenen Stämme eine entscheidende Rolle. Die Rivalitäten zwischen den Stämmen führen zu erheblichen Auseinandersetzungen."
Die meisten Milizen basieren auf tribalen - durch den Stamm definierte - oder lokalen Gruppierungen. "Es gibt aber auch salafistische und islamistische Gruppierungen", sagt Günter Meyer, "gerade im Osten des Landes." Unter Gaddafi war der östliche Teil Libyens, die Cyrenaika, ein Zentrum des Widerstands gegen den Diktator. Dort ansässige Sufi-Orden wurden von Gaddafi ähnlich bekämpft wie die Islamisten. Doch so sehr sich beide Gruppierungen voneinander auch unterscheiden: Beide stehen der Übergangsregierung kritisch gegenüber. "Internationale Geheimdienste gehen davon aus, dass der Osten des Landes mit seinen salafistischen Gruppierungen eine wichtige Rekrutierungsregion für Al-Kaida darstellt", sagt Günter Meyer. Verglichen mit Ägypten und Tunesien seien die Islamisten in Libyen politisch allerdings weniger einflussreich, sagt Omar Ashour, Direktor des Middle East Graduate Studies Programme an der Universität Exeter.
Schwache Armee
Ob im Osten, Westen oder Süden des Landes: Die verschiedenen Milizen sind schwer bewaffnet und lassen sich nicht kontrollieren. "Selbst Mitglieder der Regierung bezeichnen die aktuelle Situation in Libyen als Anarchie", sagt Günter Meyer. Um das Land wieder sicherer zu machen, hat die Regierung jetzt eine Entwaffnungskampagne ins Leben gerufen und angekündigt, die Milizen aufzulösen. Das Problem: Dem Staat fehlen die Mittel, diese Ankündigung auch durchzusetzen. Denn die libysche Armee ist mit dem Sturz Gaddafis so gut wie auseinandergebrochen und wird gerade erst neu aufgebaut.
Eine ganze Reihe von Kämpfern hat im Rahmen der Entwaffnungsaktion zwar bereits freiwillig ihre Waffen abgegeben. Doch in Libyen und seinen Nachbarländern dürfte sich noch ein Vielfaches von Waffen im Umlauf befinden - und längst nicht alle Milizen haben Interesse an einem friedlichen Neuanfang unter einer Zentralregierung. "Der Warfalla-Stamm, einer der mächtigsten Stämme in Libyen, erkennt die Autorität des neu gewählten Parlaments und der neuen Regierung bis heute nicht an", sagt Günter Meyer. Seine Mitglieder verfolgten nach wie vor ihre Interessen aus der Gaddafi-Ära.
Proteste der Bevölkerung
Um die Milizen in den Griff zu bekommen, will die Regierung einen Teil der Kämpfer in die reguläre libysche Armee eingliedern - zumindest die beiden Einheiten "Rafallah" und die "Märtyrer-Brigade vom 17. Februar", in denen die Islamisten den Ton angeben. Nach welchen Kriterien die Regierung die Milizen eingliedert, entwaffnet oder auflöst, ist allerdings unklar. "Das liegt an den unterschiedlichen Vorstellungen derjenigen Gruppen, die in der Regierung vertreten sind", sagt Omar Ashour.
In den vergangenen Wochen haben Tausende Libyer vermehrt gegen die Macht der Milizen demonstriert. In Bengasi stürmten sie sogar die Stützpunkte zweier Milizen, die als besonders extrem gelten, und vertrieben deren Anhänger aus der östlichen Metropole Libyens. Die Miliz "Ansar Al Scharia" wird für den Mord des US-Botschafters in Libyen, Christopher Stevens, und drei weiterer amerikanischer Diplomaten verantwortlich gemacht. Auch ihre Zentrale wurde gestürmt - allerdings nicht von der Übergangsregierung, sondern von wütenden libyschen Bürgern.