Die Mauer und die 545 verschwundenen Eltern
5. November 2020"Niemand weiß, wo sie sind", sagt Erika Pinheiro, Direktorin der einzigen binationalen Nichtregierungsorganisation in Los Angeles und Tijuana, die an der Grenze gestrandete Flüchtlinge kostenlos juristisch berät. Und wenn schon die Chefin von "Al Otro Lado" nicht weiß, wo sich die Eltern der 545 Flüchtlingskinder aufhalten, wer bitte dann?
"Viele werden irgendwo in Mexiko sein und verzweifelt versuchen, ihre Kinder in den USA wiederzusehen, obwohl das unmöglich ist. Andere werden in Honduras, Guatemala oder El Salvador untergetaucht sein. Und dann wird es sicherlich auch einige geben, die ermordet wurden", sagt Pinheiro.
Wenn US-Präsident Donald Trump der Grenzhüter war, der damit prahlte, die Einwanderung in den USA auf ein Minimum reduziert zu haben, dann ist Pinheiro die Hüterin und Beschützerin der Menschen, die genau diese Grenze passieren wollen. Es war schon immer ein Kampf wie David gegen Goliath, der in den vergangenen Jahren aber noch viel ungleicher wurde.
Donald Trumps knallharte Einwanderungspolitik
Trump hatte die Obergrenze für die Einreise von Flüchtlingen von 110.000 Menschen zu Obama-Zeiten auf den historischen Tiefststand von 18.000 heruntergesetzt. Er hatte seit Juli 2018 dafür gesorgt, dass niemand mehr Asyl beantragen kann, der nicht direkt aus seinem Heimatland in die USA gereist war - also faktisch nur noch Mexikaner. Und Trump hatte mit seiner Null-Toleranz-Politik gegen illegale Einwanderung nicht davor zurückgeschreckt, Eltern von ihren Kindern zu trennen. Während Mütter und Väter in speziellen Gefängnissen auf ihre Asylanhörung warteten, wurden manche Kinder sogar in Käfigegesteckt.
Nach heftigen Protesten im In- und Ausland beendete Trump die menschenunwürdige Praxis - nach sechs Wochen. Doch nicht alle Familien konnten anschließend wieder ausfindig gemacht werden. Kein Wunder, denn nach Recherchen der New York Times wurden insgesamt 5500 Kinder von ihren Eltern getrennt.
Väter und Mütter zu finden, gleicht einer Suche nach der Nadel im Heuhaufen, auch weil die US-amerikanischen Einwanderungsbehörden häufig nicht dokumentierten, wer die Eltern waren. Pinheiro hat oftmals nur einen Namen und das Land als Anhaltspunkt. "Wir arbeiten hier mit Kontaktinformationen der Ämter, die über zwei Jahre alt sind", klagt sie.
Menschenrechtsorganisationen klagen gegen die Familientrennung
"Al Otro Lado" heißt übersetzt "die andere Seite". Auf beiden Seiten, auch in den USA, ist die Nichtregierungsorganisation bestens vernetzt. Sie arbeitet eng mit "ACLU" zusammen, der "American Civil Liberties Union" in New York. Deren Anwalt Lee Gelernt hat gegen die Familientrennung durch die US-Regierung geklagt. Für ihn werden die Ereignisse von vor zwei Jahren für immer ein Makel in der Geschichte der Vereinigten Staaten bleiben.
"Präsident Trumps schreckliche Praxis, kleine Kinder von ihren Eltern wegzureißen, ist einer der größten Schandflecken dieser Regierung. Diese Familien müssen wieder zusammengeführt und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Einige der Kinder waren Babys, als sie ihren Eltern entrissen wurden. Wir werden nicht aufhören, nach den Familien zu suchen, bis wir alle gefunden haben, egal wie lange es dauert. "
Wie sehr könnte Joe Biden die Einwanderungspolitik reformieren?
60 Kinder waren zum Zeitpunkt der Trennung jünger als fünf Jahre alt. Immerhin hat Joe Biden angekündigt, sollte er Präsident werden, mit Hilfe einer Task Force alle Familien zusammenzuführen, die an der Grenze zwischen den USA und Mexiko getrennt wurden.
"Biden wird zwar definitiv die Einwanderungspolitik ändern, aber es bräuchte eine konzertierte Anstrengung mit der Hilfe von vielen Experten, um auch den Schaden rückgängig zu machen, den die Trump-Regierung angerichtet hat", erklärt Erika Pinheiro. Die Menschenrechtlerin hat da bei der neuen Regierung so ihre Zweifel: "Ich bin mir nicht sicher, ob Biden den politischen Willen dazu hat."
Der tägliche Kampf gegen das Coronavirus in Tijuana
Pinheiro und ihr Tross aus hunderten freiwilligen Helfern von "Al otro lado" werden dahingehend Druck machen - und ihr Engagement in der mexikanischen Grenzstadt Tijuana fortsetzen: den Geflüchteten weiterhin kostenlose Medikamente besorgen, denjenigen, die bei ihrer Flucht Gewalt erlitten haben, psychologische Betreuung zukommen lassen - und den Menschen beim täglichen Corona-Kampf beistehen.
"Das lokale mexikanische Gesundheitssystem ist durch die Pandemie kollabiert. Es ist schon für die Mexikaner schwierig, an einen Test zu kommen, für die Geflüchteten ist es quasi unmöglich. Niemand weiß, wie viele von ihnen jetzt hier infiziert sind", sagt Pinheiro, "wir haben hier in Tijuana Migranten mit Vorerkrankungen sterben sehen, genauso wie kleine kranke Babys, weil die Krankenhäuser sich geweigert haben, sie aufzunehmen."
Ihr größtes Glück sei es, sagt Erika Pinheiro, wenn sie es schafft, Familien wieder zusammenzubringen. Vielleicht sollte Joe Biden mal bei der Direktorin von "Al otro lado" anrufen, denn sie könnte dem vielleicht neuen US-Präsidenten so einige Tipps geben, was er jetzt an der Grenze tun müsste. "Ich würde allen Familien, die durch eine ungerechte Einwanderungspolitik getrennt sind, zusammenführen und in den USA Asyl geben. Und alle Verantwortlichen für die schlimmsten Menschenrechtsverletzungen vor Gericht bringen."