"Die Mehrwertsteuer-Senkung hätte man sich sparen können"
14. Oktober 2020Die Corona-Pandemie trifft die Wirtschaft stärker als erwartet, sie wird tiefere Spuren hinterlassen als zwischenzeitlich angenommen, und die Erholung wird länger auf sich warten lassen als erhofft. Das ist die wenig optimistische Botschaft der führenden Wirtschaftsforschungsinstitute. Jeweils im Frühjahr und im Herbst analysieren und beurteilen sie im Auftrag des Bundeswirtschaftsministeriums Konjunkturdaten und die Wirtschaftspolitik.
Dabei sollen sie einen Ausblick geben und den politisch Verantwortlichen Orientierungshilfen bieten. 2020 ist das mehr als eine Herausforderung und das machten die Wissenschaftler, die sich für die Vorstellung ihres Herbstgutachtens virtuell aus Kiel, München, Berlin, Halle und Essen zusammengeschaltet hatten, auch deutlich.
Es kommt schlimmer als erwartet
Sicher sind sie sich in der Annahme, dass die Konjunktur doch stärker einbrechen wird, als im Frühjahr angenommen. Für das laufende Jahr prognostizieren sie ein Minus von 5,4 Prozent statt der erwarteten 4,2 Prozent. Zum Vergleich: Im Krisenjahr 2009 brach die Wirtschaft um 5,9 Prozent ein. Für 2021 wird ein Wachstum von 4,7 Prozent prognostiziert, im Frühjahr waren es noch 5,8 Prozent. 2022 dürfte die Wirtschaftsleistung laut Gutachten um 2,7 Prozent zulegen.
Eine Prognose allerdings, die in den vergangenen Wochen erarbeitet wurde und die die derzeit dramatisch steigenden Infektionszahlen noch gar nicht berücksichtigen konnte. "Unsere Prognose fußt aber darauf, dass die coronabedingten Einschränkungen im Großen und Ganzen noch mindestens ein halbes Jahr fortbestehen", betont Stefan Kooths, Konjunkturchef des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel.
Droht ein zweiter Lockdown?
Wohlgemerkt: der derzeit bestehenden Einschränkungen. Was wäre, wenn erneut Geschäfte und Restaurants geschlossen und die Produktion in den Unternehmen zurückgefahren würde? Davon gehen die Wissenschaftler nicht aus. "Einen zweiten Lockdown wird es voraussichtlich nicht geben", gibt sich Kooths überzeugt.
Doch auch ohne weitere Einschränkungen wird die Erholung noch länger auf sich warten lassen. Das Vorkrisenniveau der Wirtschaftsleistung wird voraussichtlich erst Ende 2021 erreicht. Sie liege dann aber immer noch 2,5 Prozent unter dem Niveau, das ohne die Pandemie hätte erbracht werden können. Mit anderen Worten: Die Wirtschaft wird um Jahre zurückgeworfen.
Branchen mit Kundenkontakt leiden besonders
Gebremst wird die Erholung dadurch, dass Unternehmen weniger Geld in der Kasse haben und daher weniger investieren. Dazu kommen jene Branchen, die in besonderem Maße auf soziale Kontakte angewiesen sind, etwa Gaststätten und der Tourismus, das Veranstaltungsgewerbe oder der Luftverkehr. "Dieser Teil der deutschen Wirtschaft wird noch längere Zeit unter der Corona-Pandemie leiden und erst dann am Erholungsprozess teilhaben, wenn Maßnahmen zum Infektionsschutz weitgehend entfallen, womit wir erst im nächsten Sommerhalbjahr rechnen", so Kooths.
Um ihnen zu helfen, plant Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier, die bislang kaum genutzten Überbrückungshilfen anzupassen und zu verlängern. Unter anderem soll kleineren und mittleren Unternehmen bis zum Jahresende ein Großteil ihrer Fixkosten erstattet werden. Die Wirtschaftsforscher finden das richtig. Die Politik müsse zielgerichtet handeln und sich immer fragen, ob die Maßnahmen auch sinnvoll seien.
Nicht für alle sorgen
"Hilft es beim Infektionsschutz, hilft es bei der Verteilung der Kosten, hilft es bei der Verhinderung von Langfristschäden für die deutsche Wirtschaft?" Das seien die Kriterien, die anzulegen seien, betont Oliver Holtemöller vom Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung in Halle (IWH). Daran gemessen seien manche der seit Frühjahr getroffenen Maßnahmen unnötig gewesen. "Die Mehrwertsteuersenkung hätte man sich im wahrsten Sinne des Wortes sparen können", urteilt sein Kollege Kooths.
Rund 18 Milliarden Euro kostet die Steuersenkung von 19 auf 16 Prozent bis zum Jahresende. Damit seien auch Menschen entlastet worden, die das gar nicht gebraucht hätten, kritisieren die Forscher. Gerade in den privaten Haushalten gebe es große Unterschiede zwischen denen, die in Kurzarbeit stecken oder ihren Arbeitsplatz verloren hätten und denen, die gar nicht wüssten, wie sie ihr Geld derzeit ausgeben sollten. "Die Sparquote ist massiv gewachsen."
Testen und Schulen offen halten
Statt den privaten Konsum pauschal zu stimulieren sei es viel wichtiger, Nachteile auszugleichen. Beispielsweise die Beschulung durchgehend sicherzustellen. Der Ausfall des Schulunterrichts werde langfristige ökonomische Folgen haben. Oder sich um Gründer und junge Unternehmen zu kümmern. "Das sind Unternehmen, die uns morgen fehlen", betont Claus Michelsen vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin).
Wichtig sei auch eine breitere Strategie des Testens, um festzustellen, was in der Pandemie besonders gefährlich ist und was mit einer geringen Gefährdung trotzdem gemacht werden könne. "Wir sollten trotz allem optimistisch sein", meint Michelsen. Schließlich sei im Umgang mit der Pandemie schon viel gelernt worden. Auch dahingehend, wie das Virus kontrolliert werden könne. "Wir können schneller testen und wir haben Masken."
Auch wenn vielerorts die Maßnahmen wieder hochgefahren würden, sei nicht unwahrscheinlich, dass das im Herbstgutachten unterstellte Szenario eintreffe, betonen die Forscher. Wenn, ja wenn die Wirtschaft am Laufen bleibe.