Minderjährige Migranten in Bosnien bedroht nicht nur Kälte
1. Februar 2021Kinder spielen auf einer Betonplatte vor dem Eingang zum Flüchtlingscamp Borići nahe der Stadt Bihać im Nordwesten Bosnien und Herzegowinas. Hier sind vor allem Familien aus Afghanistan untergebracht. Die Kinder sind klein, sechs, sieben, acht Jahre alt. Ihr Spiel nennen sie "The Game".
Die Kinder haben sich in zwei Gruppen geteilt. Die einen spielen "Flüchtlinge", die anderen "kroatische Polizisten". Die "Flüchtlinge" versuchen, von einer Seite der Betonplatte auf die andere zu kommen. Die "Polizisten" müssen sie daran hindern. Sie sind laut, schimpfen, drohen, schubsen die Eindringlinge weg, tun so, als ob sie sie schlagen würden. Am Ende schieben die "Polizisten" die "Flüchtlinge" "ab". Game over.
"Diese Kinder ahmen das nach, was sie gesehen und erlebt haben, was zu ihrem Alltag gehört", sagt Dubravka Vranjanac, Leiterin des Notfallteams Nordwestbalkan der internationalen Hilfsorganisation "Save the Children"."The Game" nennen Migranten in Bosnien ihre Versuche, über die grüne Grenze ins EU-Mitgliedsland Kroatien zu gelangen, um von dort aus weiter Richtung Westen zu ziehen.
Seit Jahren verhindern kroatische Sicherheitskräfte viele dieser Versuche, indem die Flüchtende mit nach internationalem Recht illegalen "Pushbacks" zwingen, nach Bosnien zurückzukehren. Dabei kommt es nach Aussagen von Betroffenen, Helfern und Beobachtern immer wieder zu massiver Gewaltanwendung.
Allein auf der Flucht
Zurzeit leben in Bosnien etwa 1000 minderjährige Flüchtlinge. Etwa die Hälfte davon sind alleine unterwegs, ohne Familien oder andere erwachsene Personen. Die meisten kommen aus Afghanistan, Syrien oder Pakistan,überwiegend sind sie in den Flüchtlingscamps untergebracht, wo es keine getrennte Bereiche für die Minderjährigen gibt. Dort sind sie Gefahren für ihre Gesundheit, Schikanen und Gewalt ausgesetzt.
Noch gefährdeter sind laut Save the Children etwa 50 unbegleitete Minderjährige, die außerhalb der Camps leben. Sie sind nicht registriert, haben keine warme Unterkunft, bekommen keine regelmäßigen Essensrationen. Sondern schlagen sich irgendwie durch.
"Seit zwei Monaten schlafe ich in verlassenen Häusern, esse, was ich von Hilfsorganisationen oder Einheimischen bekomme. Aber in den Gebäuden ist es jetzt sehr kalt. Und wenn wir Feuer machen, können wir wegen des Rauches nicht mehr atmen", berichtet 17-jährige Fahad* aus Pakistan, der sich zurzeit in der Nähe der westbosnischen Stadt Bihać aufhält.
Zusammen mit einigen anderen Minderjährigen wartet Fahad auf eine Gelegenheit, "The Game" zu versuchen. Die Grenze nach Kroatien ist nicht weit entfernt. Viele der Minderjährigen haben schon versucht, auf die andere Seite zu kommen, einige schon mehr als zehn Mal. Aber sie wurden immer wieder von der kroatischen Polizei entdeckt und zurück nach Bosnien getrieben. Einen Asylantrag in der EU, den das Gesetz eigentlich vorsieht, konnten sie nicht stellen. Das EU-Land Kroatien wurde bereits mehrmals für diese illegalen "Pushbacks" kritisiert, unter anderem im Europäischen Parlament. Geholfen hat das aber wenig.
"Wir haben versucht, die Grenze zu überqueren - und jetzt dürfen wird nicht mehr in die Camps zurück", sagte der 15-jährige Abdul* aus Afghanistan, der zusammen mit einem anderen Minderjährigen aus seinem Heimatdorf in einer heruntergekommenen Fabrik nahe Bihać haust. "Jedes Mal, wenn wir in eines der Lager wollen, sagen sie uns, dass es dort keinen Platz gibt. Aber hier draußen ist es jetzt sehr kalt. Im Lager haben wir Freunde, sie haben es warm und es geht ihnen gut".
Der Gewalt ausgesetzt
Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge sind die am meisten gefährdete Flüchtlingsgruppe. Oft werden sie Opfer von Gewalt. "Die Menschenschmuggler behandeln Kinder schlechter als Erwachsene", erklärt Dubravka Vranjanac. "Sie müssen im Kofferraum des Wagens oder unter den Sitze mitfahren. Oft berichten solche Kinder, sie hätten das Gefühl, dass die Schmuggler oder lokalen Führer über ihr Leben verfügen". Dabei sei sexuelle Gewalt an der Tagesordnung: "Opfer sind meistens Mädchen oder junge Frauen, aber wir haben auch 17 Fälle sexualisierter Gewalt gegenüber Jungen registriert."
Hinzu kommen traumatische Erlebnisse bei den Versuchen, die Grenze zur EU zu Überqueren. Dubravka Vranjanac beschreibt eine Szene im Flüchtlingscamp Sedra nahe der westbosnischen Gemeinde Cazin: "Als die Eltern einer Familie mit kleinen Kindern anfingen, von ihrem nächsten Versuch zu reden, 'The Game' zu gewinnen, fingen die Kinder an zu weinen und zu schreien. Sie flippten regelrecht aus. Ihre Angst war offenbar riesengroß."
Für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge ist die Situation in Westbosnien noch schwieriger geworden, seit das Flüchtlingscamp auf dem Gelände der früheren Fabrik Bira in Bihać geschlossen wurde. Dort gab es immerhin eine spezielle Abteilung für die Minderjährige, offiziell mit 270 Plätzen. Zuletzt waren um die 400 Jugendlichen dort. Als Bira geschlossen wurde, wollte man sie in andere Camps verlegen, die im Landesinneren liegen. Aber nur wenige sind dorthin gegangen weil diese Flüchtlingseinrichtung weit weg von der Grenze zum EU-Land Kroatien liegen und die Migrierenden befürchteten, nicht mehr dorthin zurück kommen zu können, wenn die Wetterbedingungen sich im Frühjahr verbessern.
Draußen in der Kälte
"Man kann nicht sagen, dass es in Bosnien generell nicht genug Plätze für die Minderjährige gibt - aber es besteht kein funktionierendes System, um sie unterzubringen", sagt Dubravka Vranjanac. "Es gibt Platz, aber nur im Inland, wo die Jugendlichen nicht hin wollen. In der Region nahe der kroatischen Grenze dagegen sind alle Kapazitäten voll.". Deswegen lebten viele migrierende Kinder auf der Straße, schliefen in verlassenen Gebäuden oder in improvisierten Camps im Wald nahe der Grenze.
Diese Minderjährigen seien nicht registriert - und befänden sich somit außerhalb jedes Systems. An medizinische Hilfe und anderweitige Unterstützung kämen sie kaum. Deswegen fordert die Organisation Save the Children einerseits die Registrierung aller jugendlichen Migrierenden in Bosnien - und andererseits, dass man die Hilfe für sie dort organisiert, wo sie sich auch befinden. Gleichzeitig fordert die EU von Kroatien, mit der Tolerierung der illegalen "Pushbacks" durch die kroatischen Polizei aufzuhören.
*Die Namen der migrierenden Jugendlichen sind "Save the Children" bekannt.