"Die Not wird sich verschlimmern"
28. August 2021Rik Vaassen (34) ist der Afghanistan-Koordinator der Johanniter. Die evangelische Hilfsorganisation wurde 1952 in Deutschland gegründet und ist seit fast 20 Jahren in Afghanistan tätig. Im Zentrum ihrer Projekte steht vor allem die Unterstützung von Frauen, Kindern und Menschen mit Behinderung. Mit Hilfe ihrer acht Partnerorganisationen konnten die Johanniter alleine im Jahr 2020 über 340.000 Menschen in Afghanistan unterstützen.
DW: Es gibt dramatische Berichte der Welthungerhilfe wonach Benzin und Lebensmittel in Afghanistan knapp werden sollen. Wie stellt sich Versorgungslage vor Ort dar?
Rik Vaassen: Ich habe eben erfahren, dass wohl über die pakistanische Grenze Lebensmittel ins Land geliefert werden. Nach unserem Wissen gibt es Engpässe bei der Versorgung vor allem in der Hauptstadt Kabul. Nach allem was wir hören, trifft das auf andere Regionen, in denen wir arbeiten, noch nicht zu. Ein großes Problem scheint zu sein, dass alle Banken geschlossen haben. Die Menschen kommen also schlicht nicht mehr an Bargeld und können dadurch natürlich auch irgendwann keine Sachen mehr kaufen.
Sie waren erst vor wenigen Wochen im Land. Was beunruhigt Sie in diesen dramatischen Tagen denn am meisten?
Zunächst einmal machen wir uns sehr große Sorgen um unsere einheimischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und die unserer Partnerorganisationen. Aber auch ganz allgemein steht es nicht gut um das Schicksal vieler Menschen im Land. Schon in den letzten 20 Jahren waren rund ein Drittel der Bevölkerung auf humanitäre Hilfe angewiesen. Durch das Chaos und den Abzug internationaler Hilfs- und Nichtregierungsorganisationen wird sich diese Notlage mittelfristig nur noch verschlimmern.
Vor allem auch, weil wir nicht wissen, ob wir, aber auch andere Hilfsorganisationen, auch in Zukunft unsere Arbeit dort fortsetzen können.
Sie konnten in den vergangenen Tagen ihre internationalen Mitarbeiter aus Kabul ausfliegen. Sie haben die verbliebenen einheimischen Ortskräfte angesprochen. Wie steht es denn um deren Sicherheit?
Wir haben noch 33 einheimische Ortskräfte im Land. Sie alle haben Angst und wollen mit ihren Familien Afghanistan so schnell wie möglich verlassen. Um deren Sicherheit nicht zu gefährden, kann ich zwar nicht allzu sehr ins Detail gehen: Sie können sich aber sicher sein, dass wir mit allen möglichen Mitteln und auf allen möglichen Kanälen versuchen, die Kollegen raus zu bekommen. Die Luftbrücke seitens der Bundesregierung mag offiziell beendet sein, für uns als Hilfsorganisation ist diese Evakuierungsaktion allerdings noch nicht beendet.
Die Johanniter rücken weltweit bei ihrer Arbeit die Unterstützung von Müttern und Kindern ins Zentrum. Gibt es schon Reaktionen der Taliban auf ihre künftige Arbeit vor Ort?
Es gibt die unterschiedlichsten Aussagen aus den Reihen der Taliban. In Kabul wird unsere Arbeit beispielweise in Teilen behindert. Wir mussten zum Beispiel ein Projekt, bei dem es um Familienplanung geht, stoppen, weil die dortigen Taliban unseren Mitarbeiterinnen verbieten, zur Arbeit zu kommen. In der Provinz Khost an der pakistanischen Grenze sieht die Lage wiederum ganz anders aus. In unserem dortigen Projekt geht es um medizinische Grundversorgung und Mutter-Kind-Versorgung. Dort stehen wir mit den Taliban in Kontakt und können unsere Arbeit ganz normal weitermachen.
Ein Zeichen der Hoffnung?
Soweit würde ich nicht gehen, dazu ändert sich die Lage derzeit zu schnell und zu sehr. Vor allem blicken wir mit Sorge auf den kommenden Dienstag, den Tag des finalen Abzugs der amerikanischen Streitkräfte. Wir können überhaupt nicht abschätzen wie sich die Taliban dann verhalten werden.
Rik Vaassen (34) ist der Afghanistan-Koordinator der Johanniter. Die evangelische Hilfsorganisation ist seit fast 20 Jahren in Afghanistan tätig und kümmert sich weltweit um Bedürftige.
Das Interview führte Daniel Heinrich