Die olympische Illusion
23. Februar 2014Man kann die Bilanz der Olympischen Spiele von Sotschi dort beginnen, wo sie gar nicht stattfanden: Im kleinen Park Pobedy, zwölf Kilometer vom Olympiapark entfernt. Zwischen Stiefmütterchen, Parkbänken und Nadelbäumen hätten diese Spiele geprägt werden können. Hier, in der offiziellen Protestzone, sollten sich diejenigen, die unbedingt meinten, man müsste gegen Menschenrechtsverletzungen, gegen den Sotschi-Gigantismus oder gegen den autokratischen Olympia-Gastgeber Wladimir Putin demonstrieren, versammeln können. Gekommen ist so gut wie niemand - außer ein paar Spaziergängern. Es verwundert kaum: Demonstrationen mussten lange vorher beantragt und genehmigt werden, die Protestzone lag weit weg von den Spielen und war für maximal 100 Menschen zugelassen. Kurz: Eine Farce.
Farce, gutes Stichwort. "Eine Angelegenheit, bei der die vorgegebene Absicht nicht mehr ernst zu nehmen ist", definiert das Nachschlagewerk Duden. Nicht mehr ernst zu nehmen ist auch so manche sportliche Leistung in Sotschi. Nehmen wir die stärkste deutsche Biathletin dieser Spiele, Evi Sachenbacher-Stehle. Erst schnell in der Loipe, dann überführte Doperin, angeblich wegen ein paar Energieriegeln - nicht mehr ernst zu nehmen. Genauso wenig ernst zu nehmen: die Einzelfall-Strategie des Sports. Es dopen nur Individuen, die große Mehrheit ist sauber. Schließlich seien die allermeisten Dopingtests negativ, heißt es beim veranstaltenden Internationalen Olympischen Komitee (IOC). Noch so eine Farce.
Saubere Spiele? Eine Illusion
Denn ob speziell an den Testmethoden vorbei konzipierte Designer-Präparate, Mikrodosen bereits bekannter Medikamente oder neu aufgetauchte Dopingmittel wie "Full Size MGF" und das nach ARD-Recherchen bei russischen Sportlern verwendete Edelgas Xenon - allesamt nicht nachweisbar für die Dopingjäger. "Ich hatte nicht vermutet, dass die Leute hier betrügen", gab sich Arne Ljungqvist (absichtlich?) ahnungslos. Der Mann müsste es besser wissen: Er ist Chef der medizinischen Kommission des IOC. Doping-Experten zeichnen ein anderes Bild: Bis zu 60 Prozent aller Olympia-Teilnehmer seien gedopt, sagte Dopingforscher Perikles Simon und machte klar, dass nur "sehr unvorsichtige Athleten" bei den Spielen erwischt werden. Saubere Spiele? Eine Illusion.
Ebenfalls nicht mehr ernst zu nehmen: Die mediale Berichterstattung über die fünf bekannten Dopingfälle in Sotschi: Tagelang ist Doping kein Thema, dann Gerüchte über einen positiven Fall, und schon stiegen alle Journalisten ein. Hektisch wurde die Geschichte der "Sünderin" Sachenbacher-Stehle erzählt, unhinterfragt Deutungen ihres Umfelds (es war bestimmt nur ein chinesischer Energieriegel) übernommen, und am Ende der Dopingmeldung leiteten Moderatoren im deutschen Fernsehen gerne über mit: "Jetzt aber wieder zum Sport…".
Der Sport verweigert seine moralische Verantwortung
Doping? Hat also nichts mit dem Sport zu tun. Eine Attitüde, die auch das IOC gerne praktiziert: alles Negative im direkten Umfeld des Sports hat nichts mit Selbigem zu tun. Zerstörte Umwelt, weggesperrte Aktivisten, Polizeigewalt direkt vor den olympischen Sportstätten, homophobe Gesetze, ausgebeutete Olympia-Gastarbeiter, die wohl weiter vergeblich auf ihren Lohn warten werden und die totale Überwachung der Spiele durch den russischen Geheimdienst - die Liste der berechtigten Kritik an diesen Spielen ist lang. Doch das IOC macht die Augen davor zu und verweigert seine Zuständigkeit für das, was geschieht, um sein großes Sportfest möglich zu machen. Wer mit den Spielen Milliarden umsetzt, für die negativen Begleitumstände aber jegliche, und sei es nur moralische Verantwortung von sich weist, der ist - richtig - nicht mehr ernst zu nehmen.
Warum funktioniert sie dennoch so gut, die olympische Illusion? Ganz einfach: Die Ware, die das IOC anbietet, ist zu gut und schlicht zu begehrt, als dass es ernsthafte Kritik geben könnte. Hochemotionale Bilder wie die der weinenden Überraschungs-Olympiasiegerin im Skispringen, Carina Vogt, spektakuläre Sprünge in den Freestyle-Wettbewerben, halsbrecherische Kopf-an-Kopf-Duelle im Skicross, atemberaubende Hundertsteljagden im Eiskanal und Herzschlag-Entscheidungen beim Eishockey - die Spiele von Sotschi boten Sportfans packende Momente zum Mitfiebern, Verzweifeln und Jubeln.
Der olympische Gigantismus bleibt uns leider erhalten
Dem IOC boten sie die Gewissheit, dass die Winterspiele auch in Zukunft durchaus in neue, nichttraditionelle, dafür aber zahlungskräftige (Wintersport-?)Regionen vergeben werden können. Der olympische Gigantismus bleibt uns also leider erhalten. "Exzellente Spiele" seien es gewesen, die Russland auf die Beine gestellt habe, versichert IOC-Präsident Thomas Bach. Er hat Recht, wenn man nur das Sportliche betrachtet. Und alles andere interessiert doch eh nur am Rande…