Corona, die Psyche und ein Gewinner
27. Juni 2021Herbst 2020 in Deutschland: Zuerst schließt die Gastronomie, dann auch der Einzelhandel. Die Infektionszahlen steigen, die Kontaktbeschränkungen werden verschärft. Jonas Schmidt fühlt sich isoliert, wie sehr viele andere Menschen auch. Aber ihn, der seit Jahren unter Depressionen leidet und Schwierigkeiten hat, Kontakt mit seinen Freunden zu halten, trifft es härter. Einmal die Woche geht er zu einer Gesprächstherapie, aber den zwischenmenschlichen Kontakt, das Gespräch mit Freunden, kann dies nicht vollends ersetzen. Auf der Suche nach Unterstützung stößt der 23-jährige auf die Therapie-App Selfapy.
Selfapy ist ein digitales Therapie-Angebot, das Online-Kurse und individuelle psychologische Betreuung verbindet. Es ist eines der erfolgreichsten Startups und ein führender Anbieter in diesem Bereich. Doch die Konkurrenz wächst stetig, befeuert durch die Pandemie.
Corona verstärkt psychische Belastung
Denn mit seinen Erfahrungen ist Jonas Schmidt nicht allein. Sowohl psychisch Vorerkrankte als auch Menschen, die mit Themen wie Depression und Angststörung bisher nicht in Berührung gekommen sind, hat die Corona-Situation zusätzlich belastet. Laut einer Studie der NAKO, Deutschlands größtem Forschungsprojekt zur Gesundheit der Allgemeinbevölkerung, nahmen die Angst- und Depressionssymptome bei den unter 60- jährigen zu, besonders stark betroffen waren junge Frauen. Außerdem stieg der Anteil derjenigen mit moderat bis schwer ausgeprägten depressiven Symptomen unter den 114.000 Befragten von 6,4 auf 8,8 Prozent an. Zudem fielen viele Therapie-Angebote weg oder wurde ins Virtuelle verlegt.
Selfapy kam diese Entwicklung entgegen. Fast dreimal so viele Menschen wie vor der Pandemie nahmen Kontakt mit dem Online-Therapie-Anbieter an. Auch Unternehmen schließen öfter Abonnements für ihre Mitarbeiter ab: Allein im Pandemiejahr unterschrieb Selfapy genauso viele Unternehmenskooperationen wie in den vier Jahren davor, berichtet die Psychologin Nora Blum. Gemeinsam mit Katrin Bermbach und Farina Schürzfeld gründete sie das Unternehmen im Jahr 2016. Seitdem haben über 30.000 Menschen das Angebot in Anspruch genommen, mittlerweile werden die Kosten für die Kurse sogar von allen Krankenkassen übernommen. Kurz vor Beginn der Pandemie, im Januar 2020, erhielt das Unternehmen eine letzte größere Förderung von sechs Millionen Euro.
Keine Woche ohne neues Unternehmen
Die Mission der Gründerinnen ist, Betroffenen den Zugang zu therapeutischer Unterstützung zu erleichtern und das Bewusstsein für psychische Gesundheit zu stärken. Letzteres nahm in der Pandemie eine positive Entwicklung, sagt Nora Blum der DW: "Ich habe das Gefühl, dass es gerade mehr in Ordnung ist zu sagen, dass es einem nicht gut geht."
Die Pandemie hat jedoch nicht nur das Thema der psychischen Erkrankungen weiter in die öffentliche Aufmerksamkeit gerückt, sondern auch die Digitalisierung des Gesundheitswesens - und damit auch von Therapien - vorangetrieben. Das weiß auch Christian Weiß: "Es vergeht keine Woche, in der wir kein spannendes neues Unternehmen im Bereich Digital Mental Health in Europa sehen." Christian Weiß ist Managing Partner von Heal Capital, einem 100 Millionen schweren Venture Capital Fond des Verbands Privater Krankenversicherer (PKV). Die Investmentfirma hat sich auf die Förderung von Startups an der Schnittstelle zwischen Gesundheitswesen und Technologie spezialisiert und fördert unter anderem Mental Health-Startups.
In den USA boomt der Markt schon länger: 2020 pumpten Investoren 1,5 Milliarden Dollar in die Branche - ein Rekord. Ein Unternehmen, das in diesem Bereich Geschichte geschrieben hat, ist das US-amerikanische Startup Cerebral. Dieses bietet zusätzlich zu Online-Therapien auch psychiatrische Behandlung und Zugang zu Medikamenten an. In den anderthalb Jahren seit seiner Gründung hat es einen Marktwert von über einer Milliarde US-Dollar erreicht und ist damit das am schnellsten wachsende "Einhorn" der Digital Mental Health-Szene.
Psychische Erkrankungen werden auch nach Pandemie weiter zunehmen
Solche Rekorde verzeichnen Mental Health-Startups in Europa zwar nicht, aber in ihrem Innovationspotential können sie durchaus mithalten, meint Christian Weiß. "Der europäische Markt ist zwar ein bisschen jünger, aber wir sehen eine unglaubliche Dynamik und viele spannende Firmen mit diversen Teams." Er hofft, dass die Startup-Szene in Europa in diesem Bereich eine größere Rolle spielen wird und konkurrenzfähig bleibt.
Sowohl Nora Blum als auch Christian Weiß sind optimistisch, dass das Bewusstsein für psychische Erkrankungen auch nach der Pandemie weiter wachsen wird und damit auch weiter Geld in diesen Bereich fließen wird. "Die Herausforderungen dieser Welt werden auch nach Pandemie-Ende nicht verschwinden," sagt Christian Weiß.
Das im November 2019 von der Bundesregierung beschlossene Digitale-Versorgungs-Gesetz hat für den Wachstum der Branche eine gute Grundlage gesetzt. Es soll die Digitalisierung im Gesundheitswesen weiter voranbringen, indem es Ärzten erlaubt, Medizin-Apps wie Selfapy zu verschreiben. Für Nora Blum ein wichtiger Schritt: "Digitalisierung ist der Zeitgeist. Wir suchen im Internet nach einer Immobilie oder nach einem Partner. Wir sollten uns auch digital um unsere Gesundheit kümmern können, und da hat Deutschland noch ganz viel aufzuholen."