SPD legt Hand an Schröders Agenda
6. März 2017Wenn es etwas gegeben hat, was die Sozialdemokraten an den Rand ihrer Frustrationstoleranz gebracht hat, dann war es Gerhard Schröders Agenda-2010-Politik von 2003. Das Entsetzen darüber, dass ausgerechnet ein "Sozi" soziale Zumutungen verordnet hatte, war riesig. Die Reform der Arbeits- und Sozialpolitik spaltete die SPD, sie hatte ihre Identität verloren und leidet bis heute darunter. Ausgerechnet Sozialdemokraten hatten umgesetzt, was konservativ-liberale Regierungen unter Helmut Kohl stets gefordert, aber nie auch nur ansatzweise in Angriff genommen hatten. Kein Wunder, dass der Applaus für die SPD von der falschen Seite kam.
Was Martin Schulz will
Die Union war und ist klammheimlich entzückt, profitiert doch Angela Merkel seitdem von den niedrigen Arbeitslosenzahlen, der starken Wirtschaft und der Gesundung der Sozialsysteme. Doch die SPD war der eigenen Klientel seitdem fremd geworden - dem linken Flügel, Heerscharen von Mitgliedern, den Gewerkschaften. Das kostete Stimmen bei den Wahlen. Unsozialdemokratischer als Schröder gilt nur noch Helmut Schmidt. Der brachte Anfang der 1980er Jahre mit seinem Nato-Doppelbeschluss weite Teile der SPD gegen sich auf. Vor allem weil er sich letztlich durchsetzt hatte, so wie Schröder später auch. Schulz will das ändern und Schrödersche Härten wieder kassieren.
Kernstück seiner Pläne ist das Arbeitslosengeld I. Es wird zwölf Monate gezahlt, Ältere über 58 bekommen es 24 Monate. Schulz und Arbeitsministerin Andrea Nahles wollen den Bezug verlängern und zwar um genau die Zeit, in der sich der Arbeitslose weiter qualifiziert. Damit nimmt Schulz die alte Formel der Agenda-Politik wörtlich: "fördern und fordern". Wer also für sechs Monate einen Computerkurs belegt, darf noch einmal so lange das neue "Arbeitslosengeld Q" beziehen - und zwar in gleicher Höhe. Also 60 Prozent vom letzten Nettolohn. Und: Wer nach einer Qualifizierungsmaßnahme nicht sofort wieder in Arbeit kommt, erhält weiter Arbeitslosengeld. Im maximalen Fall 48 Monate lang. Schulz spricht vom "Recht auf Schutz". Und vom Recht des Arbeitslosen auf Weiterbildung. Bislang entscheiden die Arbeitsagenturen, wer sich qualifizieren darf und wer nicht. Das kommt an in einer Partei, die vor allem sozial sein möchte und sich sieben Monate vor der Bundestagswahl unterscheiden will von Merkels Union.
Soziale Wohltaten als Mobilisierungsfaktor
Da sich Schulz und Merkel bei den Wahlkampfthemen Innere Sicherheit und Europa (EU) kaum widersprechen werden, bietet die Arbeitsmarktpolitik beiden großen Parteien Raum für Attacken. Wenn auch unter paradoxen Vorzeichen: Die Union preist Schröders Agenda-Politik und die SPD legt Hand an einen programmatischen Fremdkörper in ihrem Selbstverständnis.
Martin Schulz erklärt sein Vorhaben gerne über seinen "Kronzeugen", einen 50-Jährigen, der mit 14 in den Betrieb eingetreten ist und nun Angst um seinen Arbeitsplatz hat. Würde der Albtraum des Mannes wahr, er bekäme nur 15 Monate Arbeitslosengeld I, danach bliebe nur die Sozialhilfe (Hartz IV). Das sei eine soziale Härte, so Schulz, die geändert gehöre.
Wer soll das bezahlen?
Das sehen auch die Gewerkschaften so, die allerdings noch mehr Korrekturen an der Agenda-Politik fordern. Für Reiner Hoffmann, Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes, ist der Schulz-Plan die Korrektur eines "Kardinalfehlers" der Schröder-Agenda. In der Union halten sie den Angriff auf die Reform von 2003 für eine Schlacht aus der Vergangenheit, die nun noch mal neu geschlagen werden soll - aus populistischen Gründen, wie die Konservativen unterstellen. Eine teure soziale Wohltat sei das, kritisieren auch die Arbeitgeber.
Dabei sind die Kosten der Laufzeitverlängerung nach SPD-Lesart bezahlbar. Pro Jahr, so haben die Sozialdemokraten grob errechnet, soll die Arbeitsmarktkorrektur rund eine Milliarde Euro kosten. Das Geld ist da. In der Arbeitslosenkasse liegen derzeit rund elfeinhalb Milliarden Euro Guthaben. Jedenfalls hat die Q-Frage das Zeug zum Wahlkampfschlager.