Die Reiter der Löwen – Der Kampf mit der Natur in Orissa
16. Mai 2008Orissa, ein Bundesstaat im Südosten Indiens, gilt seit über hundert Jahren als Katastrophengebiet. Stürme und Überschwemmungen haben bisher mehr als 40.000 Menschen das Leben gekostet. Auch 2007 war ein schweres Jahr für Orissa. Und doch trotzen die Überlebenden jeden Tag der Natur – und bleiben.
Traumatische Erinnerungen
Kandura Behera ist einer der vielen Fischer von Ersama, einem Distrikt an der Küste des Golfs von Bengalen. Zaghaft singend rudert er mit seinem kleinen Holzboot aufs unruhige Meer hinaus – er überspielt seine Nervosität. Er weiß, wie stark die Natur hier ist. Damals, am 28. Oktober 1999, ging in Ersama der Superzyklon „an Land“, der Mahabatya – der schwerste Wirbelsturm, den Orissa je erleben musste. Er traf mit mehr als 360 Kilometern pro Stunde auf die Küste. „Alle Boote wurden zerstört, unser Haus wurde weggefegt, ich habe monatelange überhaupt nicht arbeiten können – bis heute ist es schwer, klarzukommen“, klagt Kandura.
Verdrängt, aber nicht vergessen
Innerhalb von drei Tagen starben mehr als 11.000 Menschen, auch die gesamte Familie von Sisir Mandal aus dem Nachbardorf. „Nur mein Vater und ich haben überlebt, weil wir Kraft hatten und uns festhalten konnten. Die anderen sind alle ertrunken“, sagt Sisir.Während er in leisem Ton erzählt, läuft in seinem Kopf ein grausamer Film der Erinnerung ab. Eine psychologische Beratung nach diesem schweren Trauma hat niemand erhalten. Weil es sich hier niemand leisten kann. Doch wie so viele andere an der Küste will Sisir bleiben. Allerdings hat er auch keine andere Wahl. So gerne wäre er Krabbenfischer wie die meisten hier, doch er hat kein Geld, um sich einen kleinen Teich für die Zucht der Krustentiere zu kaufen. Überhaupt hat er nach dem Sturm nie einen einzigen Rupee Entschädigung von der Regierung erhalten, obwohl die Politiker das großzügig versprochen hatten.
Schutz durch rechtzeitige Warnungen
Es fehlt nicht nur eine Entschädigung, sondern auch Geld für die Vorsorge. Der nächste Sturm kommt bestimmt, da sind sich Sisir und die anderen Bewohner des Dorfes sicher. Und noch immer gibt es viel zu wenige cyclone shelters, also stabile Schutzbauten, in denen die Menschen in Sturmzeiten einigermaßen sicher sind. Immerhin wird in bessere Vorwarnung investiert. „Man kann nicht mit der Natur kämpfen – man kann nur versuchen, mit ihr zu leben, mit ihr zu kooperieren, sagt Nikunja Sundaray, Orissas oberster Krisenmanager von OSDMA, der Orissa State Mitigation Authority. Er ist stolz auf das Katastrophenschutz-Zentrum mit seinem satellitengestützten Warn-, Rettungs- und Versorgungssystem. Im Ernstfall, so Sundaray werde durch dieses System jede Verwaltungsebene rechtzeitig gewarnt und könne Maßnahmen durchführen – das gelte von der Landesregierung über die Distrikte bis hin zum kleinsten Dorf. „Nur wenn sich die Menschen mit der Technologie verbinden, können sie der Kraft der Natur widerstehen und bleiben, wo sie sind.“
Die Ärmsten trifft es am härtesten
Als der Fischer Kandura Behera aus Ersama noch ein Kind war, da war das Meer noch drei Kilometer von dem Ort entfernt, an dem er heute lebt. Das Meer kommt näher, und es wird stürmischer. Früher war die Küste noch geschützt, durch die Mangrovenwälder und die Kajurina-Bäume mit ihren starken Wurzeln. Heute ist die Orissa anfälliger geworden. Geschwächt durch den Raubbau an der Natur, das Roden von Brennmaterial und die Folgen des enormen Kohlendioxid-Ausstosses. Dafür ist auch das wirtschaftlich boomende Indien mit verantwortlich.
Doch in Wahrheit ist das lokale Problem ein globales: Auf erschreckende Weise wird an den Küsten von Orissa deutlich, dass der weltweite Klimawandel hier am Golf von Bengalen die Ärmsten der Armen trifft – die Fischer und Kleinbauern.
Die Angst geht immer mit
„Die Politik hat viel zu lange die Augen davor verschlossen, dass die Landwirtschaft unter der Klimaveränderung leidet“, sorgt sich Surendranath Pasupalak, Agro-Meteorologe von der Universität von Bhubaneswar. Er beobachtet einen Teufelskreis zwischen unregelmäßigem Niederschlag und einer steigenden Klimaerwärmung. „Die Mangroven an der Küste trocknen aus und die Menschen holzen sie ab, damit sie Brennholz haben. Das wiederum erhöht die Gefahr von Hitzewellen – und damit steigt das Risiko von Wirbelstürmen.“ Doch deswegen die Küste verlassen? Fischer Kandura Behera aus Ersama glaubt: „Was nützt es denn, die See zu verfluchen? Nur die Götter können uns Kraft geben.“ Und dann rudert er wieder aufs Meer hinaus. Vom Strand winken ihm seine vier kleinen Kinder zu.
Autor: Alexander Göbel
Redaktion: Peter Koppen