"Die Sarajevo-Haggada ist wie ein Phönix"
22. April 2022Haggadas sind jüdische Ritualbücher, die biblische Geschichten, Gebete und Psalmen enthalten. Aus ihnen wird an Pessach gelesen, wenn gläubige Jüdinnen und Juden den Auszug des Volkes Israel aus Ägypten feiern. Eine der berühmtesten Haggadas befindet sich in der bosnischen Hauptstadt Sarajevo.
"Die Sarajevo-Haggada ist wie ein Phönix", erklärt Jakob Finci, der Präsident der Jüdischen Gemeinde in Bosnien und Herzegowina, der DW. "Trotz aller Gefahren - und derer gab es viele von Judenverfolgungen über die Inquisition und zwei Weltkriege bis zum Krieg in Bosnien und Herzegowina - jedes Mal wurde das Buch gerettet, jedes Mal hat es überlebt, jedes Mal tauchte es wieder auf".
Die Sarajevo-Haggada besteht aus drei Teilen: Der erste enthält 62 Figurenkompositionen mit kurzen hebräischen Inschriften; der zweite von rein dekorativen Motiven umrahmte Texte für den ersten Tag des Pessach; und der dritte Gebete und Psalmen für die anderen sechs Pessach-Tage ohne jegliche Dekoration. Stilistische Analysen der Malereien und Miniaturen ergaben, dass das Buch um das Jahr 1350 herum in Spanien geschrieben wurde.
Laut Notizen aus der Haggada selbst wechselte sie nach der Vertreibung der Juden 1492 mehrfach die Besitzer - aber wer diese waren, ist nicht bekannt. Die erste zuverlässige Spur datiert aus dem Jahr 1894, als das Nationalmuseum des damals von Österreich-Ungarn verwalteten Westbalkanlandes Bosnien und Herzegowina das Buch von der in Sarajevo ansässigen sephardischen Familie Kohen für die Summe von 150 Kronen (ca. 15.000 Euro) kaufte.
Rettung vor den Nazis
Aber auch im Museum fand die Sarajevo-Haggada keinen dauerhaften Frieden. Gleich nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Sarajevo 1941 forderten die deutschen Besatzer den damaligen Museumsdirektor, den Katholiken Jozo Petrovic, auf, ihm das jüdische Buch zu übergeben. Doch mit Hilfe des muslimischen Kurators Dervis M. Korkut gelang es, die Haggada in Sicherheit zu bringen.
"Dervis Korkut erklärte den Deutschen, es seien bereits Wehrmachtssoldaten im Museum gewesen und hätten die Haggada mitgenommen. Ihre Namen hätten sie nicht genannt - mit der Begründung, dass das Museumspersonal nicht wissen dürfe, wer das Buch an sich genommen habe", berichtet Hikmet Karcic, Völkermordforscher am Institut für die islamische Tradition der Bosniaken in Sarajevo und Autor des Buchs "Dervis M. Korkut: Eine Biografie" gegenüber der DW.
Versteck: Moschee
Tatsächlich aber hatte Korkut die Haggada an sich genommen und in einer Moschee auf einem der Berge versteckt, die Sarajevo umgeben. Dort blieb sie bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. "Neben dem Buch rettete Korkut eine private Sammlung jüdischer Manuskripte, die er von einem Freund erhalten hatte, indem er sie unter einem falschen Namen ins Archiv eintrug", so Karcic.
Korkut sei hochgebildet gewesen und habe fest daran geglaubt, dass das, was er tat, richtig war. Er rettete auch die Oberschülerin Mira Papo, deren Eltern von den deutschen Besatzern in ein Konzentrationslager gebracht worden waren. Die junge Frau wurde verschleiert, und so wurde aus der bosnischen Jüdin Mira die muslimische Albanerin Amira, die angeblich aus Kosovo gekommen war, um Korkut im Haushalt zu helfen.
Die Haggada im Bosnienkrieg
Nach dem Zweiten Weltkrieg brachte Dervis Korkut die Haggada ins bosnische Nationalmuseum zurück. Dort wurde das Buch in einem Safe aufbewahrt und der Öffentlichkeit nur unregelmäßig gezeigt, um es vor dem Verfall zu schützen. Doch als am 6. April 1992 die Belagerung von Sarajevo begann, war das Nationalmuseum, das sich auf der Demarkationslinie zwischen bosnischer Armee und bosnisch-serbischen Truppen befand, kein sicherer Ort mehr für die Haggada.
Museumsdirektor Enver Imamovic rettete das Buch zusammen mit anderen wertvollen Werken auf eigene Initiative, indem er sie im Tresorraum der Nationalbank unterbrachte. In internationalen Medien aber erschienen Berichte, nach denen die bosnische Regierung die Haggada verkauft und das Geld für die Armee des Landes ausgegeben hätte. Sowohl die Regierung als auch die jüdische Gemeinde Bosniens dementierten. "Die Bürgerinnen und Bürger Sarajevos würden die Haggada niemals verkaufen oder zerstören", betont Jakob Finci.
Weltberühmt durch einen Fehler
Der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Bosniens lebte zu diesem Zeitpunkt als Flüchtling in den Vereinigten Staaten. Der jüdische US-Senator Joe Lieberman kündigte ihm an, er wolle zu Pessach 1995 ins belagerte Sarajevo fahren - vorausgesetzt, dass er dort die Haggada sehen könne. "Ich sagte ihm, wo sie war - und dass er sie sich jederzeit ansehen könne", berichtet Finci der DW. Die Lieberman-Reise habe letztlich zwar nicht stattgefunden - aber dafür seien Journalisten aus aller Welt nach Sarajevo gekommen, die den Senator dort hatten treffen wollen.
"Ein Reporter der New York Times schrieb dann einen Bericht, in dem stand, die 'berühmte Sarajevo-Haggada' sei '7.00 Millionen Dollar' wert. Aber das wurde nicht so veröffentlicht", berichtet Finci lachend - denn bei der Summe hatte sich ein Fehler in den Text eingeschlichen: Beim Faxen war der Punkt zwischen den Zahlen unleserlich geworden, der wirkliche Preis der Haggada wurde auf sieben Millionen Dollar geschätzt - nicht auf 700 Millionen. "So teuer war bis dahin kein Buch jemals geschätzt worden. Und so wurde die Haggada weltberühmt."
Nach Ende des Bosnienkriegs finanzierten die Vereinten Nationen dem Nationalmuseum Bosnien und Herzegowinas einen speziellen Glasschrank für die Sarajevo-Haggada. Seit November 2002 ist das so geschützte Buch in einem besonders gesicherten Raum nach Anmeldung für Besucherinnen und Besucher zugänglich. 2017 wurde die Sarajevo-Haggada in das UNESCO- Weltkulturerbe aufgenommen.