Buchmesse Leipzig
13. März 2014Wer am Leipziger Bahnhof in die Straßenbahnlinie 16 steigt, um zum Messegelände im Norden der Stadt zu gelangen, mag sich in Bern, Genf oder Bellinzona wähnen. Auf Schweizerdeutsch, Französisch, Italienisch oder Rätoromanisch überraschen die Ansagen. Feine Sprachminiaturen, oft Wortspielchen mit dem Haltestellennamen am Rande zum Dadaismus, entworfen von der Schweizer Spoken-Word-Gruppe "Bern ist überall".
Literarische Schein-Einigkeit
"Auftritt Schweiz" nennen die Eidgenossen selbstbewusst ihr bis in den Nahverkehr fortgesetztes Gastspiel. Über 80 Autoren lesen in Leipzig, überall in der Stadt leuchten jetzt rote Lesebänke. Selbst die sind nicht einfach nur Bänke, sondern Designerstücke. So aufwändig inszenierte sich noch kein Gast der Buchmesse. Wieder einmal transportiert das Alpenland das bewährte Image aus heiler Welt, Perfektion und Einigkeit.
Die freilich sehen viele Betrachter schon angesichts der vier Landessprachen als Schein-Einigkeit. Auf die Literaturlandschaft trifft das auf jeden Fall zu: Von so etwas wie einer gemeinsamen Schweizer Literatur mag niemand sprechen. "Zwischen den Sprachräumen gibt es wenig Austausch", sagt Franziska Schläpfer, Kuratorin des Schweizer Literaturprogramms in Leipzig. Dafür bräuchte es mehr Übersetzungen. Doch den Verlagen scheint es nicht so wichtig zu sein, den anderen Sprachgruppen des Landes in erster Linie Schweizer Autoren zugänglich zu machen.
Identifizierung mit dem Sprachraum
Die Identifizierung der Autoren gilt dem jeweiligen Sprach- und Kulturraum. "Sie wollen nicht als Schweizer Literaten wahrgenommen werden", sagt Schläpfer. Daniel Mezger, in Zürich lebender Schriftsteller und Schauspieler, sieht nur eine Gemeinsamkeit seiner Kollegen in der Deutschschweiz: "Wir schreiben weder in der Muttersprache, noch in einer Fremdsprache." Der Weg vom gedachten zum geschriebenen Satz bietet stilistisches Potenzial.
Das gilt mehr noch für Schriftsteller mit kulturellen Wurzeln jenseits der Schweiz. Melinda Nadj Abonji, die für ihren Roman "Tauben fliegen auf" 2010 den Deutschen und den Schweizer Buchpreis erhielt, wurde im ehemaligen Jugoslawien als Teil der ungarischen Minderheit geboren. Als Kind kam sie in die Schweiz und musste zwei neue Sprachen lernen: Hochdeutsch und Dialekt. "Das prägt", sagt Melinda Nadj Abonji. "Für mich ist das ein Energiepol." Ihre Muttersprache hat sie nie abgeschüttelt. "Eine Redewendung übersetze ich oder versuche, eine ähnliche zu finden." Eine Suche, die in ihren Texten poetisch mitschwingt. Oder, wie die Autorin sagt: Sie habe schon oft gehört, dass ihr Deutsch anders klinge.
Kratzer im Bild der friedlichen Vielfalt
Vielseitig präsentiert sich die Literatur aus dem Alpenland. Mezger bezeichnet die Schweiz als Patchwork: Hinter dem nächsten Berg spreche man schon wieder anders. Und Sabine Dörlemann, Verlegerin des aktuellen Schweizer Buchpreisträgers Jens Steiner, zitiert einen Spruch, der in den 90er Jahren für Furore sorgte: "La suisse n'existe pas" ("Die Schweiz existiert nicht"). Doch das Bild der Offenheit und friedlichen Vielfalt, das die Literaten transportieren, es hat mit dem jüngsten Referendum für eine Einwanderungsquote für EU-Bürger Kratzer bekommen.
Ein Thema, das über der Buchmesse schwebt. Autoren und Verleger positionieren sich. Manche lassen sarkastische Buttons sprechen: "Besuchen Sie die Schweiz, so lange es noch geht." Melinda Nadj Abonji kommentiert in Leipzig das Abstimmungsergebnis künstlerisch mit einer Performance. Spricht man sie auf die Entwicklung in ihrer Heimat an, kann sie die Wut schwer unterdrücken. "Ich halte die Initiative für eine Katastrophe, die zeigt, dass die Demokratie in der Krise steckt." Die direkte Demokratie verkomme zum Alibi, weil über Inhalte abgestimmt werde, die gegen die Demokratie und die Verfassung stünden.
Das ist nicht neu: Nadj Abonji erinnert an das ebenfalls per Volksentscheid durchgesetzte Minarett-Verbot vor vier Jahren. "Man darf den Politikern nicht die Deutung überlassen", sagt die Autorin und beklagt eine mangelnde Debattenkultur in der Schweiz.
Feinsinniger Roman über das Fremde
Auch Mezger empfindet die Initiative als Tiefschlag. "Ängste werden bewirtschaftet", sagt er. Mezger kennt sich aus mit dem Thema Fremdheit und Abgrenzung. Seinen feinsinnigen Roman "Land spielen" hat er darüber geschrieben. Aber es geht darin nicht um Ländergrenzen. Es geht um eine Stadtfamilie, die in ein Dorf zieht. Es geht um unsichtbare Mauern, um Spielregeln, die erlernt werden müssen. Und letztlich auch darum: Skepsis gegenüber Fremden ist nicht spezifisch schweizerisch. "Fremdsein ist relativ", sagt Mezger. "Die Leute, die an der nächsten Tramhaltestelle zusteigen, das sind doch schon die Fremden."