Ausgewählt
28. Mai 2013DW: Für den Internationalen Literaturpreis 2013 wurden 136 Titel eingereicht, übersetzt aus 27 Sprachen, von Autoren aus über 50 Herkunftsländern. Welche sechs Bücher haben es denn auf die Shortlist geschafft?
Sehr unterschiedliche Bücher! Ich bin jetzt das dritte Jahr in der Jury, und es ist jedes Jahr so, dass, wenn dann das Endergebnis vorliegt, man auf diese Titel blickt und sich fragt, ob die sich überhaupt auf irgendeinen Nenner bringen lassen.
"Der Symmetrielehrer" von Andrej Bitow ist ein artistischer, artifizieller Roman, der in einem Kranz von verschiedenen, miteinander lose verwobenen Novellen das Thema "Leben versus Literatur" aufgreift.
Teju Cole ist, denke ich, einer der vielversprechendsten afroamerikanischen Autoren. Wobei sich die Frage stellt: Ist "Open City" überhaupt ein afroamerikanischer Roman oder ein amerikanischer oder ein afrikanischer? Ein Post-9/11-Roman, der aber eigentlich Identitäten verhandelt und gewaltsame Identitätsdiskurse in Frage stellt und damit ein ganz wichtiges, aktuelles, transkulturelles Thema aufgreift.
Valeria Luisellis "Die Schwerelosen" ist ein luftiger, leichter Roman, der in New York und Mexiko City spielt, in der Gegenwart einer Frau, die einen Roman schreiben will und damit nicht weiter kommt. Und die dann zurückspringt in die Vergangenheit, in das New York der 20er-, 30er-Jahre, und die Geschichte und das Tagebuch eines existierenden mexikanischen Autors aufgreift. Diese zwei Zeiten, Erzählebenen und Existenzen blendet sie peu à peu ineinander. Ein Roman, der eine Art Luftspielerei ist, aber eine ganz wunderbare Note hat. Ein Debüt - ich denke, von der Autorin wird sicher noch was kommen.
Russisch, amerikanisch, französisch
Zakhar Prilepin, der Autor von "Sanikya", ist offenbar das, was man das Enfant terrible der russischen Literatur nennen muss, eine sehr umstrittene Figur. Wir haben auch lange darüber debattiert, er ist halb Clown, halb Agitpropagandist. Der Roman erzählt von den Nationalbolschewisten in Russland, bringt uns ein sehr aktuelles, aber auch sehr unbekanntes und uns vielleicht auch ein wenig unangenehmes Russland nahe, das man aber auch zur Kenntnis nehmen muss. Deswegen haben wir uns dazu entschieden, diese auch literarisch sehr starke Stimme hineinzunehmen und müssen vielleicht damit leben, dass man uns "political incorrectness" vorwerfen wird.
Jean Rolins "Einen toten Hund ihm nach" sind Reportagen. Aber das Wort ist vielleicht schon falsch gegriffen, denn dieser Roman lebt sozusagen im Geiste des "nouveau romans", beschreibt alles sehr detailliert, aber verwischt gleichzeitig auch die Grenzen zwischen Fakten und Fiktion.
Und last but not least "Die Frau im blauen Mantel", ein Roman des Neuseeländers Lloyd Jones, der ein sehr aktuelles Thema aufgreift, nämlich die Geschichte einer Schwarzen, die nach Berlin kommt. Sie ist auf der Suche nach ihrem Kind, das ihr entwendet wurde, von dem Erzeuger des Kindes. Aber das Schicksal dieser Frau, und das ist formal etwas sehr Interessantes, was Lloyd Jones hier macht, wird aus verschiedenen Perspektiven gebrochen, erzählt, und zwar stationsweise von denen, die den Weg dieser Frau von Afrika nach Berlin begleiten.
Vielfalt und Kontinente
Sie haben sich in gewisser Weise um die Welt gelesen. Haben Sie dabei den Eindruck gewonnen, dass es Regionen, vielleicht sogar auch Kontinente gibt, von denen im Augenblick eine besonders starke Literatur kommt?
Das ist eine sehr schwer zu beantwortende Frage. Wir haben auf der Shortlist jetzt wieder sehr viele Titel aus dem englischsprachigen Bereich. Und das bildet natürlich etwas ab. Bildet es aber wirklich Qualität ab? Oder spiegelt es Marktdominanzen wider? Wir haben, glaube ich, zum Beispiel in diesem Jahr in den Einreichungen nur einen chinesischen Autor gehabt. Eigentlich etwas Merkwürdiges. China ist wirklich ein Literaturland. Wir haben einen indischen Autor gehabt. Was ist mit dem Subkontinent? Wir hatten arabische Titel, haben uns aber dann aufgrund literarischer Vorbehalte gegen sie entschieden.
Die osteuropäische Literatur ist sehr stark. Nicht nur in diesem Jahrgang, das war sie schon letztes Jahr. Also, das lässt sich gar nicht so leicht beantworten. Das Einzige, was man wirklich sagen kann, ist, dass die aufregendsten Stimmen der afrikanischen Literatur derzeit in Amerika geschrieben werden. Dass Amerika bei allen Vorbehalten, die man haben kann, und bei allen Vorbehalten auch gegen die angloamerikanische Dominanz, dass sich das Land wirklich als der "meeting point" und nicht mehr der "melting pot" einer global arbeitenden Schriftstellergeneration transkultureller Herkunft herauskristallisiert hat.
Nach welchen Kriterien haben Sie die Titel, die nun auf der Shortlist stehen, ausgewählt?
Als allererstes wirklich nach literarischen Kriterien. Und literarisch heißt vor allen Dingen: Wie ist die sprachliche Verarbeitung des Themas? Und dann, wie gehen Form und Inhalt zusammen? Wir wollen nicht einfach nur sagen, ach, das ist eine tolle Geschichte, und wunderbar, jetzt kommt sie auch noch aus der arabischen Welt, also nehmen wir sie mal. Wenn das Literarische nicht eingelöst wird, wenn wir nicht das Gefühl haben, da ist wirklich Klang, ein literarischer Ton, den man hört, und zwar von der ersten Seite an, und der durchgehalten wird bis zur letzten Seite, dann muss man sagen, das ist ein Buch, das eigentlich nicht auf die Liste gehört.
Den Klang verdankt jedes dieser Bücher auch seinem Übersetzer, seiner Übersetzerin, die ja am Ende dann auch einen Preis bekommen. Wird das noch in irgendeiner Weise überprüft, wie dicht die Übersetzung am Original ist? Oder steht die Übersetzung tatsächlich für sich?
Wir lesen erstmal die deutsche Übersetzung. Die muss uns überzeugen. Aber wir kommen ja in dieser Jury immer aus verschiedenen Sprachräumen, sind Kenner, Kennerinnen für verschiedene Sprachräume, und überprüfen das dann schon auch noch mal am Original. Aber entscheidend muss für uns sein, ob die deutsche Fassung durchgängig ist. Wie flüssig liest sich das? Wie eingängig ist das? Aber trotzdem wird das immer noch mal überprüft, vor allen Dingen ,wenn wir jetzt das Gefühl haben, da knirscht, rattert und knattert etwas, dann guckt man noch mal.
Marktgesetze der Literatur
Wissen Sie, ob diese Bücher es leicht gehabt haben, auf den deutschen Markt zu kommen, hier Verlage zu finden?
Teju Cole ist sehr schnell übersetzt worden, bei "Der Symmetrielehrer" hat es vier Jahre gedauert. Und der heikelste Fall ist Zakhar Prilepin "Sankya". Dieser Roman hat sechs Jahre gebraucht, um in den deutschen Markt zu gelangen, offenbar aufgrund der politisch fragwürdigen, zumindest nicht ganz geklärten Position des Autors - ob er eben mit seiner Stalin-Liebe nur ein böses Spiel betreibt oder es ihm bitterernst ist. Es gab offenbar Verlage, die das politische Wagnis nicht eingehen wollten, ihn zu veröffentlichen.
Was bedeutet der Preis für die Autoren? Befördert er deren Standing auf dem deutschen Buchmarkt?
Da können wir mit Stolz und mit Freude vor allen Dingen sagen, ja, was die beiden letzten Preisträger anbelangt, Mircea Cătărescu und Michail Schischkin. Schischkin, ein Russe, der in der Schweiz lebt, der in Russland sehr berühmt war, und der auf dem deutschen Buchmarkt wirklich nicht bekannt war. Der hat sich wirklich einen Namen machen können mit diesem Preis. Und Cătărescu war auch jemand, um den man eigentlich nur als Kenner wusste. Und der sich dann doch platzieren konnte.
Am 30.5.2013 werden die diesjährigen Preisträger bekannt gegeben. Der Internationale Literaturpreis ist mit 25.000 Euro für die Autorin/den Autor und 10.000 Euro für die Übersetzerin/den Übersetzer dotiert.
Die nominierten Bücher in alphabetischer Reihenfolge:
- Andrej Bitow, "Der Symmetrielehrer" (Suhrkamp Verlag), Aus dem Russischen von Rosemarie Tietze
- Teju Cole, "Open City" (Suhrkamp Verlag), Aus dem Englischen von Christine Richter-Nilsson
- Lloyd Jones, "Die Frau im blauen Mantel" (Rowohlt Verlag), Aus dem Englischen von Grete Osterwald
- Valeria Luiselli, "Die Schwerelosen" (Verlag Antje Kunstmann), Aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz
- Zakhar Prilepin, "Sankya" (Matthes & Seitz Berlin), Aus dem Russischen von Erich Klein und Susanne Macht
- Jean Rolin, "Einen toten Hund ihm nach" (Berlin Verlag), Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller
Das Interview führte Silke Bartlick.