Auf der Reeperbahn nachts um halb eins
23. April 2009Es steht in keinem Reiseführer: die Reeperbahn ist vor allem eine laute Durchgangsstraße: nüchterner Betonmittelstreifen, zwei Spuren rechts, zwei Spuren links, Tag und Nacht mit viel Verkehr. Doch das stört die 20 Millionen Besucher nicht, die alljährlich hier an kunterbunten Läden, Sexshops, Kneipen und Theatern vorbeiziehen und natürlich auch an den zahlreichen Frauen, die hier ihre Liebesdienste anbieten. „Von 20 Uhr bis 6 Uhr morgens sind die Damen auf der Straße.", sagt Fremdenführerin Ingrid Seele. Sie führt regelmäßig Touristen über die legendäre Lustmeile und betont: "keine Minute eher und keine Minute später. Das ist festgelegt, das ist Gesetz. Da können sie die Uhr nach stellen.“
Schlechter Ruf als Markenzeichen
Zum Bild der Reeperbahn gehört die Prostitution. Nicht nur der Straßenstrich, sondern auch die Bordelle in der Nähe. Doch die käufliche Liebe ist längst nicht mehr das tragende Gewerbe der Reeperbahn, sondern nur noch ihr weltbekanntes Aushängeschild, betont Marco Reyes-Loredo. Er ist Kulturwissenschaftler und hat die Reeperbahn aus verschiedenen Blickwinkeln unter die Lupe genommen. Für ihn ist die Reeperbahn nichts weiter als eine große Inszenierung, eine Fassade für eine riesige Menge von vergnügungssüchtigen Menschen, die glauben, sich wie in einem rechtsfreien Raum aufführen zu können.
Ein Handwerk gab den Namen
Der Name der Reeperbahn leitet sich vom niederdeutschen Wort "Reeper" ab, ein Seilmacher, der früher die großen Taue herstellte, mit denen Schiffe am Kai befestigt wurden. Die handgefertigten Taue mussten zum Trocknen ausgelegt werden. Dazu brauchte man lange Flächen, die sogenannten Reeperbahnen. Und die befanden sich ganz in der Nähe der heutigen Kultstraße.
Die Reeperbahn hat aber noch weitaus mehr geschichtliche Besonderheiten zu bieten. Zum Beispiel wurde hier in den 1930ern das sogenannte Planschetarium gebaut, erzählt Marco Reyes-Loredo, das erste Wellenbad Europas.
Die goldenen Zwanziger
Zur Blütezeit der Reeperbahn war die Straße ein Ort bürgerlichen Vergnügens. Hier fanden sich die großen Volkstheater, das Operettenhaus und das - nach dem Wintergarten in Berlin - zweitgrößte Varietétheater Deutschlands, der Trichter. In den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts gab es an der Reeperbahn 60 bis 70 Theater und Amüsierbetriebe. Nicht etwa Eros-Center, sondern tatsächliche Theater, betont der Kulturwissenschaftler im schmucklosen Eingang eines Lebensmittel-Discounters und beschreibt, was heute durch Rigips-Platten und Mineralfaser-Decken verborgen bleibt: “Das Alkazar war ein Art-Deco-Tempel, auf zwei Etagen mit einer Center-Stage. Der Tanzboden öffnete sich und mittels einer Hydraulik kam ein Wasserbassin nach oben. Hier fanden Wasserspiele statt. Heute kaum zu glauben.“
Große Freiheit Nr. 7
Mit der Machtergreifung der Nazis wanderten vor allem viele jüdische Künstler ab oder erhielten Auftrittsverbot. Jüdische Theaterdirektoren mussten ihre Häuser schließen. Im Kriegsjahr 1943 entstand der Film Große Freiheit Nr.7, mit Hans Albers in seiner berühmtesten Rolle. Das sagenumwobene Lokal „Große Freiheit Nr. 7“ gab es damals auf St. Pauli nicht, gesungen hat der Schauspieler das legendäre Lied „Auf der Reeperbahn nachts um halb eins“ im besetzten Prag vor aufgestellten Kulissen. Heute existiert das Lokal, eine Diskothek, die von den meisten für die Nachfolgerin des historischen Originals gehalten wird.
Yeah, Yeah, Yeah
Nach dem Zweiten Weltkrieg und vor allem in den 60er und 70er Jahren wurde die Reeperbahn dann zum bekanntesten öffentlichen Bordell der Welt mit Sex-Shops und Porno-Kinos. Wenig bekannt ist, so Marco Reyes-Loredo, dass die Reeperbahn eine der berühmtesten Musikgruppen der Welt hervorgebracht hat: „Die Beatles haben ihre Weltkarriere hier gestartet. Der Hamburg-Sound, den wir heute Beat-Musik nennen, wurde hier geprägt und so auch in die Welt verkauft.“
Lange Zeit hat die Stadt selbst ihre bekannten Stars vernachlässigt. Erst vor kurzem entschied man sich in Hamburg, die Erfolgsgeschichte der Beatles für das Eigenmarketing zu nutzen und ließ 2008 auf der Reeperbahn einen Beatles-Platz bauen.
Von der Lust- zur Kulturmeile
Geschichten von Erfolg und Wandel kann man auf der Reeperbahn reichlich finden. Zum Beispiel beim Imperialtheater, ein Bau aus den 50er Jahren. Als die Bühne kein Geld mehr einbrachte, wurde daraus Europas größtes Porno-Kino auf zwei Ebenen. Die wilden Zeiten sind längst vorbei. Heute ist das Imperial ein in Deutschland einzigartiges Krimitheater, in dem Adaptionen bekannter Kriminalfilme aufgeführt werden, hauptsächlich von Edgar Wallace. Ein weiteres Merkmal für den eindeutigen Wandel in Richtung Kultur- statt Lustmeile.
Der Straßenalltag auf der Theaterbühne
Mitgearbeitet an der kulturellen Transformation der Reeperbahn hat Corny Littmann, einer der Köpfe des Volkstheaters Schmidt-Tivoli, das im August 2008 sein 20jähriges Jubiläum feierte. Stolz zählt er Schauspieler und Sängerinnen auf, die in seinem Haus groß und berühmt geworden sind: Tim Fischer, Georgette, Marlene Jaschke und Lilo Wanders. Heute ist das Schmidt-Theater etabliert. Vor 20 Jahren galt es als exotisch und sorgte für einige Skandale, da es sich von Anfang an als homoerotisches Theater präsentierte.
Heiße Ecke
Inzwischen ist die Themenpalette breiter. Im Sommer 2008 besuche ich im Schmidt-Theater eine Vorstellung des Musicals „Heiße Ecke“, eines der erfolgreichsten Musiktheaterstücke Deutschlands, Aufführung Nr. 1213.
Die echte „Heiße Ecke“ fand sich lange Zeit direkt gegenüber des Schmidt-Theaters, eine legendäre Imbissbude, die 24 Stunden geöffnet war. „Ein Ort, an dem sich das pralle Leben abgespielt hat“, so Marco Reyes-Loredo: „wo der Zuhälter und sein Mädchen vor dem Dienst ihre Currywurst gegessen haben, genauso wie die Beamten aus der genau gegenüber liegenden David-Wache, genauso wie der Tourist, genauso wie der Mensch, der hier aus dem Viertel kommt.“ Die Bude ist inzwischen verschwunden. Der Ort, an dem sie stand, ist ein Stück eingezäunte Großstadtbrache. Im Theater aber lebt die Heiße Ecke weiter.
Ein bisschen Schmuddel muss sein
Die Reeperbahn verwandelt sich weiter. In unmittelbarer Nähe gibt es schicke Eigentumswohnungen, Marketingagenturen und edle Hotels. Nur die Straße selbst darf man nicht allzu sehr herausputzen, damit sie ihren guten schlechten Ruf nicht verliert. „St. Pauli funktioniert nicht ohne Sünde“, meint Bezirksamtsleiter Markus Schreiber und fügt hinzu: „Ein bisschen Schmuddel muss sein“. Eigentlich müsse man die Fensterscheiben sogar absichtlich ein bisschen dreckig lassen, damit die Straße ihr Flair behalte.