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Ein Austauschsemester in Pjöngjang

Esther Felden11. August 2015

Nie allein, nicht einmal im Schlafsaal. Und doch ganz allein: Ein Semester studierte der 18-jährige Alessandro Ford an der Kim-Il-sung Universität. Als erster und einziger westlicher Student. Der DW erzählt er davon.

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Alessandro Ford vor der Skyline von Pjöngjang (Foto: Alessandro Ford)
Bild: privat

Deutsche Welle: Viele junge Menschen machen heutzutage ein Auslandssemester, gehen in die USA, nach Australien oder auch China. Wie bist du ausgerechnet auf Nordkorea gekommen?

Alessandro Ford: Ich war 2011 das erste Mal in Nordkorea. Ich hatte meinen Vater begleitet, er ist Nordkorea-Experte (Alessandros Vater Glyn Ford war von 1984 bis 2009 Abgeordneter der Labour Party im Europäischen Parlament, Anmerk. d.Red.) Für ihn war es eine Dienstreise, für mich ein Abenteuer in einem für mich exotischen und noch unerforschten Land. Die Reise selbst war für mich eher langweilig: Lange Meetings und Fahrten in heißen und engen Autos. Aber manchmal war da auch ein Funken Aufregung. Darüber, wie seltsam, fremd und einfach anders dieses Land war.

Zwei Jahre später habe ich dann mit den Planungen für ein Auszeit-Jahr zwischen Schule und Studium begonnen. Das war Anfang 2013. Ich wusste nicht, was ich machen wollte, nur, dass es etwas richtig Großes und Wagemutiges sein sollte. Als Backpacker nach Vietnam? Als Freiwilliger nach Kolumbien? Oder Interrail durch Europa? Nichts davon schien mir Herausforderung genug. Dann begann mein Vater ungeduldig zu werden, weil ich mich einfach nicht entscheiden konnte. Er sagte: "Wenn du keine Entscheidung triffst, dann schicke ich dich einfach nach Nordkorea." Das war eigentlich als Witz gemeint, aber ich fragte meinen Vater, ob er mich tatsächlich wieder nach Nordkorea bringen könnte. Er war überrascht, aber erklärte sich einverstanden, zumindest zu fragen, ob so etwas möglich sei.

Wie schwierig war es, den Plan dann in die Tat umzusetzen?

Es dauerte ein paar Monate, bis die nordkoreanische Seite ihr Einverständnis gab, aber irgendwann haben sie meinen Wunsch akzeptiert. Ihre einzige Bedingung war, dass ich vor der Reise ein bisschen Koreanisch lernen musste (das war auch Alessandros Studienfach, Anmerk. d. Red.). Das habe ich getan. Sie wollten einen Austausch zwischen nordkoreanischen Universitäten und westlichen vorantreiben, darunter auch Cambridge. Dazu brauchten sie gewissermaßen einen Pionier, um den Weg für weiteren Austausch mit europäischen Unis frei zu machen.

Alessandro Ford (rechts) gemeinsam mit nordkoreanischen Studenten bei einem Picknick im Wald
Gemeinsamer Ausflug mit den nordkoreanischen Kommilitonen - Alessandro ganz rechts im BildBild: privat

Wie hast du das Leben auf dem Campusgelände empfunden? War es in irgendeiner Weise vergleichbar mit dem, was du von zu Hause kanntest?

Nein, es war ganz anders als alles, was ich von zu Hause kannte. Die Kultur war eine andere, die Menschen benehmen sich anders, die Atmosphäre ist eine andere. Aber trotzdem habe ich mich nach einer Zeit daran gewöhnt. Wir haben Fußball und Basketball gespielt, oder auch Karten. Wir haben zusammen Bier getrunken und Filme geschaut. Nach einer Weile wurde das Leben in Nordkorea zur Routine, so wie überall sonst auch. Woran ich mich aber wirklich gewöhnen musste, war die Tatsache, was für Workaholics die Nordkoreaner von Natur aus sind. Mit dem, was sie in der Uni oder auch beim Sport leisten und sich abverlangen, kann man kaum mithalten.

Wie groß war der Kulturschock, als du in Nordkorea warst?

Der war schon enorm, hatte mich die ersten zwei Monate ziemlich im Griff. Alle wuschen sich zusammen, alle gingen zusammen in die Sauna, alle aßen zusammen, trieben Sport zusammen. Alles wurde gemeinsam gemacht. So etwas wie Privatsphäre kennen sie einfach nicht. Und dann gab es noch den politischen Aspekt des Ganzen: Alle Studenten verbeugten sich jeden Morgen vor der Statue Kim Il-sungs. Die Fotos von Kim Il-sung und Kim Jong-il hingen in jedem Raum, und jeden Morgen fuhr ein Regierungsvan an den Schlafsälen vorbei und beschallte uns über Lautsprecher mit Lobliedern auf den Sozialismus. Es war schwer, sich daran zu gewöhnen, aber irgendwann habe ich es geschafft.

Inwieweit konntest du mit deiner Familie zu Hause in Kontakt bleiben? Und wie “frei” war dieser Kontakt?

Ich hatte genau wie alle anderen keinen Zugang zum Internet. Ich hatte aber ein Handy, mit dem ich ins Ausland telefonieren konnte. Damit konnte ich telefonieren, soviel ich wollte. Ich habe aber wegen der hohen Kosten von 2,20 Dollar pro Minute für einen Auslandsanruf aus Pjöngjang nur einmal pro Woche Gebrauch davon gemacht.

Was hast du in Nordkorea am meisten vermisst?

Ich habe vermisst, mich frei bewegen zu können, ohne dass mich jemand beobachtet oder mir folgt. Ansonsten habe ich auch das westliche Essen vermisst. Wir hatten nur traditionelle koreanische Küche oder chinesisches Essen in den vier Monaten, in denen ich dort war. Besonders Erdnussbutter hat mir gefehlt, ich bin regelrecht süchtig danach und habe die Nordkoreaner damit genervt, indem ich ständig gesagt habe, dass sie Erdnussbutter importieren sollen.

Hast du neben deinem Leben auf dem Campus auch etwas vom normalen Alltag in Nordkorea mitbekommen? Konntest du Ausflüge außerhalb von Pjöngjang machen? Und wenn ja, was hast du dort gesehen?

Vom Alltag in Nordkorea habe ich eigentlich ständig etwas mitbekommen. Immer, wenn ich auf dem Weg zur Uni oder unterwegs durch Pjöngjang war. Ich habe Kinder auf dem Schulweg gesehen, müde Männer auf dem Weg zur Arbeit, Menschen, die ihrer täglichen Routine nachgingen eben. Ganz alltägliche Dinge eben. Es war schön, mal etwas anderes als marschierende Soldaten zu sehen oder geführte Touren zu erleben.

Daneben habe ich zusammen mit anderen ausländischen Studenten Ausflüge zum Mount Myohang und zum Mount Kumgang gemacht. Die Fahrt dorthin war eine Gelegenheit, mehr vom Land zu sehen. Das ländliche Nordkorea ist viel ärmer als das verhältnismäßig wohlhabende Pjöngjang. Die Straßen waren heruntergekommen, die Gebäude baufällig. Hunger habe ich nicht mit eigenen Augen gesehen. Was aber nicht heißt, dass es das nicht gibt.

Wie bist du mit dem Gefühl, ständig unter Beobachtung zu stehen, klar gekommen?

Am Anfang war es sehr schwer. Es war ein klaustrophobisches, beengtes Gefühl, ein bisschen wie ersticken. Ich hatte nicht eine Sekunde für mich allein. Nicht einmal im Schlafsaal. Man musste auch fragen, wenn man einen Spaziergang machen wollte. Mit der Zeit habe ich mich aber daran gewöhnt und es wurde normal, immer jemanden dabei zu haben. Ich mochte das zwar nach wie vor nicht, aber es hat sich nicht mehr so gezwungen angefühlt.

Alessandro Ford zusammen mit anderen beim Inliner fahren (Foto: Alessandro Ford)
Freizeitspaß in Nordkorea: Auf Inline-Skates in PjöngjangBild: privat

Wie würdest du das Verhältnis zu deinen nordkoreanischen Kommilitonen beschreiben? Waren sie neugierig darauf, dich kennenzulernen?

Es gab einige, die einfach alles wissen wollten. Und dann die, die gar nichts darüber hören wollten, dass es eine Welt außerhalb von Nordkoea gibt. Die meisten aber wollten so viel wie möglich hören, zum Beispiel über das Leben in England und in Europa.

Was für Fragen haben sie dir gestellt? Welche Themen haben sie interessiert?

Am interessantesten waren für sie die ganz alltäglichen Dinge: Sie wollten wissen, was ich normalerweise zum Frühstück esse, wie viel Taschengeld ich als Kind bekommen habe, ob ich eine Freundin habe und sie heiraten will. Und sie wollten wissen, wie man sich für einen Beruf entscheidet, wie man ein Auto kauft und wie viel es in Großbritannien kostet, zur Uni zu gehen. Diese Dinge haben sie fasziniert.

Manchmal ging es auch um Grundsätzliches: Wie denken die Menschen in anderen Ländern über Nordkorea? Was halten sie von den USA? Warum agieren die USA immer als Weltpolizist und überlassen es nicht den Regierungen der jeweiligen Länder, ihre Probleme selbst in den Griff zu bekommen?

Habt ihr auch über Politik geredet, oder war dieses Thema tabu?

Darüber, welches politische System oder welche politische Theorie am besten ist, haben wir nie gesprochen. Was wir aber besprochen haben, sind internationale Beziehungen: beispielsweise, dass China Nordkorea unterstützt und die USA den Süden. Insgesamt haben wir aber versucht, das Thema Politik weitgehend auszuklammern.

Ich weiß noch, wie ich im Schlaftrakt für ausländische Studenten von einem nordkoreanischen Kommilitonen herumgeführt wurde. Er zeigte mir zwei Waschmaschinen dort und sagte, dass wir nur eine davon benutzen könnten. Als ich ihn fragte warum, antwortete er, die andere gehöre den chinesischen Studenten, sie hätten sie gekauft. Ich sagte aus Spaß: Ich hätte eigentlich gedacht, dass ich im koreanischen Arbeiterparadies sei. Und jetzt müsste ich erleben, wie ausländische Teufel das sozialistische Paradies mit kapitalistischen Gebräuchen infiltrierten. Er verkrampfte sofort und wurde sehr schmallippig. Ich machte aber noch weiter, sagte: "Wie können chinesische Studenten eine eigene Waschmaschine 'besitzen', das ist doch bourgeoiser Schwachsinn, ein trojanisches Pferd, um die Reinheit des koreanischen Sozialismus zu vergiften.' An dieser Stelle wurde der nordkoreanische Student sehr ernst und sagte: "Hör auf, Witze über den Sozialismus zu machen." Es war möglich, über Sozialismus und Kapitalismus zu sprechen - aber bei Humor gab es ganz klar eine Grenze.

Wie viel wussten deine Kommilitonen über das, was im Rest der Welt vor sich geht?

In Nordkorea spielen sich gerade dramatische Veränderungen ab: Chinesische und südkoreanische Musik, Filme und Fernsehshows gelangen massenweise über die Grenze. Einige meiner nordkoreanischen Freunde hatten chinesische Laptops und Computerspiele, mit denen sie sich stundenlang beschäftigen konnten. Viele hören chinesische oder auch russische Musik, und auf den Straßen kann man chinesische und oft auch russische Filme mit koreanischen Untertiteln kaufen. Es gibt Gerüchte, dass die Oberschicht in Pjöngjang hinter verschlossenen Türen heimlich südkoreanisches Fernsehen guckt.

Bild mit dem Stundenplan an der Kim Il Sung Universität (Foto: Alessandro Ford)
Der Tagesablauf auf dem Campus der Kim Il Sung Univerität ist strikt geregeltBild: privat

Was Nachrichten angeht, werden die Nordkoreaner aber weitgehend im Dunkeln gehalten. Im staatlichen Fernsehen wird zwar auch über internationale Themen berichtet, aber meist keine politisch relevanten Themen. Es ging beispielsweise darum, dass in Spanien die Orangen verfaulen, dass die Touristenzahlen in Vietnam sich gut entwickeln oder dass es in Teilen Afrikas extrem heiß ist.

Bei den wirklich politischen Themen waren die Fakten oft ziemlich verdreht: Es hieß beispielsweise, dass die USA Ebola verursacht und dann in Ostafrika die Kontrolle darüber verloren hätten. Oder im Zusammenhang mit der Ukraine-Krise ging es um das aggressive amerikanisch-europäische Vorgehen gegen die friedlichen Russen. Wir haben auch davon gehört, dass junge Schwarzamerikaner von weißen Polizisten getötet wurden - aber das wurde als Beweis für das Versagen der USA als funktionierender Staat angesehen und dafür, wie Washington mit Minderheiten umgeht.

Meine Lehrer waren auch ein Sinnbild dafür, wie wenig teilweise über alles, was jenseits der Landesgrenzen stattfindet, bekannt ist. Ein Professor hat mal über die vier Jahreszeiten in Nordkorea gesprochen. Dann machte er eine Pause und fragte mich, ob es denn im Westen auch vier Jahreszeiten gebe. Ein anderer Professor hat mir fünf Minuten lang erklärt, was eine Banane ist, weil er einfach dachte, ich hätte noch nie eine gesehen. Das mag trivial klingen. Aber es waren Anzeichen für das lückenhafte Wissen in Nordkorea.

Hast du auch echte Freundschaften schließen können, oder war das unter den Umständen unmöglich?

Doch, ich habe schon Freunde gefunden. Freunde, von denen ich hoffe, dass ich sie eines Tages wiedersehen kann. Ungeachtet dessen, dass wir unsere Differenzen hatten und dass ich es teilweise nur schwer ertragen konnte, niemals allein zu sein bleibt die Tatsache, dass ich quasi jeden wachen Moment in Begleitung dieser Menschen verbracht habe. Und sie haben mich nicht als Verkörperung der britischen Politik angesehen, sondern so wie ich sie: als Mitbewohner und ganz normale Kommilitonen mit ähnlichen Wünschen, Problemen, Macken und Gefühlen.

Sie sind auch nicht aufgewacht und haben den USA den Tod gewünscht oder zuerst gedacht: "Lang lebe das koreanische Arbeiterparadies." Wir sind alle keine Manifestation von Kapitalismus und Sozialismus, von Ost oder West. Wir waren Studenten, die dieselbe Uni besucht und dort denselben Alltag gelebt haben. Daraus sind echte Freundschaften entstanden.

Es gab auch Momente, wo wir uns gegenseitig zur Weißglut gebracht haben. Aufgrund unserer komplett verschiedenen Hintergründe konnte ich mich ihnen auch nicht so verbunden fühlen wie meinen Freunden zu Hause. Sie waren auch keine Engel der Toleranz, sie hatten Ansichten, die ich definitiv nicht teilen konnte. Aber Menschen sind ja meistens nicht nur schwarz oder weiß, weder in Nordkorea noch zu Hause. Da gibt es einfach viele Grautöne.