Die verarmten Gastarbeiter
12. Juli 2013Eser Gökler ist die große Ausnahme. Der 65-jährige Türke kam 1969 in die Bundesrepublik, lernte Deutsch, machte das Abitur und studierte Wirtschaftswissenschaft. Als Diplom-Kaufmann arbeitete er viele Jahre als Controller bei großen Firmen und machte sich später selbstständig. Gökler legte schon früh Geld in kleinen Immobilien an. "Deshalb muss ich heute keine Miete zahlen und kann mit den Einkünften meine Rente von 1200 Euro auf das Doppelte aufstocken", erzählt Gökler. Damit ist er ein Ausnahmefall. Denn laut Statistik geht es vielen Einwanderern in seinem Alter anders: Sie haben kaum genug zum Leben.
Arbeitskräfte für das Wirtschaftswunder
Millionen Menschen aus Süd- und Osteuropa zog es in den 1960er und 70er Jahren nach Deutschland. Die meisten kamen, um der Armut in ihrer Heimat zu entfliehen. Die Wirtschaft der Bundesrepublik boomte und brauchte Arbeitskräfte. Deutschland warb lange Zeit um die Migranten, die damals Gastarbeiter genannt wurden. Angelockt von der Aussicht auf ein besseres Leben, arbeiteten sie in Stahlfabriken und im Bergbau, bei Autoproduzenten und in Großküchen. Wohlstand erreichten nur wenige.
Eine jetzt veröffentlichte Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der Hans-Böckler-Stiftung zeigt, heute sind mehr als 40 Prozent der Migranten im Rentenalter von Armut betroffen. Damit ist die Armutsquote unter älteren Ausländern mehr als dreimal so hoch wie bei deutschen Staatsbürgern. Als arm beziehungsweise armutsgefährdet gilt nach EU-Definition, wer über weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens verfügt. Bei Alleinstehenden heißt das in Deutschland, sie müssen mit weniger als 848 Euro im Monat auskommen. Bei Paaren liegt der Satz bei 1278 Euro. Erfasst wurden von der Studie nicht nur Einzelpersonen, sondern auch Paare und Großfamilien. "Ein Haushalt kann immer nur ganz oder gar nicht in Armut sein. Wenn sie zwei Personen haben, die eine hat mehr als 848 Euro, aber die andere hat gar nichts, sind beide in Armut", sagt Eric Seils, der Verfasser der Studie.
Schlecht bezahlt und schneller arbeitslos
Der Sozialforscher sieht für die besonders hohe Altersarmut unter Migranten vor allem drei Gründe: "Diejenigen, die hierhergekommen sind, wurden zwar in Großbetrieben eingestellt, die tendenziell besser bezahlen, aber sie haben dort einfache, gering qualifizierte Tätigkeiten verrichtet. Die werden üblicherweise schlechter bezahlt." Zweitens seien in den 1980er Jahren vor allem Ausländer entlassen worden, als viele Jobs in der Industrie verschwanden und der Dienstleistungssektor wuchs. Deshalb lag die Ausländer-Arbeitslosenquote schnell über der von deutschen Männern und Frauen. Als dritten Grund nennt Seils die Tatsache, dass Ausländer "einen völlig unbedeutenden Anteil an Beamten stellen, die ja üblicherweise gar nicht von Altersarmut betroffen sind."
Hinzu kommt, so der Wissenschaftler, dass viele Ausländer erst als ältere Erwachsene nach Deutschland kamen und deshalb eine unterbrochene "Erwerbsbiografie" hätten. "Sie kamen aus Ländern, in denen der informelle Sektor, also die Schwarzarbeit, blühte. Für die ersten Jahre ihres Arbeitslebens ohne Sozialversicherung bekommen sie also häufig nichts."
Die Zahl der altersarmen Ausländer steigt
Die schwierige Situation der Migranten im Rentenalter ist nichts Neues. Bereits 2006 erschien eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, die auf wachsende Altersarmut unter Ausländern aufmerksam machte. Was sich seitdem jedoch eklatant geändert hat, ist die Zahl der Betroffenen, betont Eric Seils. "Die Zahl der Ausländer mit Altersarmut ist von ungefähr 170.000 im Jahr 2006 auf heute etwa 270.000 angestiegen." Und sie werde vermutlich weiter steigen, so Seils im Gespräch mit der Deutschen Welle.
Um künftige Migranten-Generationen vor der Altersarmut zu bewahren, hat die Deutsche Rentenversicherung Baden-Württemberg im Jahr 2009 gemeinsam mit mehreren Wohlfahrtsorganisationen und dem Integrationsministerium des Bundeslandes ein groß angelegtes Projekt aus der Taufe gehoben. "Mit unseren Kursen zur Altersversorgung haben wir kaum Migranten erreicht und deshalb NEMIGUSS entwickelt, das Netzwerk für Migration und Soziale Sicherheit", sagt Andreas Schwarz, Geschäftsführer der Deutschen Rentenversicherung Baden-Württemberg und Leiter von NEMIGUSS.
Speziell die drei größten Migrantengruppen, Türken, Italiener und Griechen, sollen hier über Altersvorsorge- und Gesundheitsvorsorge informiert werden. "Das System der sozialen Sicherung ist sehr kompliziert. Wir bieten Seminare, die den Menschen die Inhalte auf sehr einfache Weise vermitteln. Außerdem haben die Teilnehmer die Gelegenheit, in ihrer Muttersprache Fragen zu stellen."
Die ersten NEMIGUSS-Kurse liefen im Jahr 2012 an, mit guter Resonanz, wie Schwarz berichtet. Ähnliche Systeme gebe es auch in anderen Bundesländern, sagt er. Die hätten allerdings weniger von sich reden gemacht und seien deshalb weniger bekannt. Auf Bundesebene fehlt eine vergleichbare Informationskampagne jedoch bisher.
Gebucht werden können die kostenlosen Vorsorge-Seminare über das Integrationsministerium in Baden-Württemberg. Abnehmer sind laut Andreas Schwarz Kulturvereine, Migrantenorganisationen und Gewerkschaften. Bestellen könne die Veranstaltungen aber jeder. "Dann kommt jemand von unseren Netzwerkpartnern, der auch in der Lage ist, in der jeweiligen Muttersprache zu antworten", so Schwarz.
Viele gehen aus Scheu nicht zum Sozialamt
Den heutigen Migranten im Rentenalter nützt NEMIGUSS nichts mehr. Zwar gibt es mancherorts Selbsthilfegruppen für arme Migranten, doch sind solche Einrichtung eher die Ausnahmen. Den ausländischen Rentnern bleibt nur der Weg zum Sozialamt, um die sogenannte Grundsicherung zu beantragen, wenn ihre Rente zum Leben nicht reicht. Würden das alle tun, die Anspruch auf Unterstützung hätten, wäre die Zahl der armen Migranten im Rentenalter noch weit höher als sie sich bisher zeigt, sagt Sozialforscher Eric Seils. Seine These: Mehr noch als deutsche Bedürftige würden Ausländer davor zurückscheuen, beim Sozialamt um Hilfe zu bitten.