Die verlorene Generation syrischer Kinder
8. September 2016Hundertfach reihen sich auf dem Weg in die Bekaa-Ebene im Libanon die Zeltlager syrischer Flüchtlinge - zwischen Feldern und Büschen ragen immer wieder die notdürftig zusammengezimmerten Behausungen hervor, meist abgedeckt mit Planen, auf denen das Logo des UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR prangt. Der Krieg im Nachbarland Syrien ist nicht weit entfernt. Gerade mal 15 Kilometer sind es bis zur Grenze: Und manchmal hört man ihn auch - den Krieg.
So ist es auch in Bar Elias. Bar Elias, das war einmal ein Ort mit etwa 35.000 Einwohnern. Wie viele Menschen durch den Zuzug der Syrer jetzt dort leben, weiß keiner so genau. In dem kleinen Flüchtlingslager Medyen, direkt an der Hauptstraße, leben neun Großfamilien aus Kusseir, einer Stadt im syrischen Gouvernement Homs. Der Großteil der Bewohner sind Kinder. Medyen al-Ahmed, der Namensgeber, hat das Camp 2013 aufgebaut - daher wurde es nach ihm benannt. Seit vier Monaten befindet sich dort eine kleine Zeltschule, in der täglich 65 Kinder aus umliegenden Flüchtlingslagern unterrichtet werden - auf Initiative von Medyen.
Lernen unter schwierigen Bedingungen
Um acht Uhr beginnt der Unterricht. "I am from Syria", "you are from Syria" - "ich komme aus Syrien", "du kommst aus Syrien", schreibt Hatem Ahmad vorne an. Hatem ist 15 Jahre alt. Vor vier Jahren ist er mit seiner Mutter und seinen zwei Schwestern in den Libanon geflohen. Der Vater verstarb früh. "Ich habe die Schule in der 6. Klasse in Syrien verlassen müssen. Ich gehe hier in die Schule, damit ich nicht vergesse, wie man schreibt und liest. Und dazu lerne ich ein bisschen Englisch. Das bringt mir viel", erzählt Hatem mit gesenktem Blick. Ein bisschen schüchtern ist er, aber im Unterricht taut er auf, das kann man in seinem Gesicht sehen.
In den kleinen Klassenraum, der mit einem Teppich und schmalen Bänken ausgestattet ist, dringt ein Lichtstrahl durch die offene Stelle in der Wand. Die Lehrer haben die Löcher in der Wand - ohne Fensterscheiben - abgedeckt, soweit es geht, damit weniger Hitze eindringt. Es ist dennoch heiß, aber Medyen und die Schüler finden es an diesem Tag sogar noch erträglich. Strom ist Mangelware und von den Wänden bröckelt der Putz. "Wir haben zwar schon einige Spenden bekommen, aber wir brauchen noch viele Dinge", sagt Medyen: "Im Sommer gibt es keine Ventilatoren, im Winter keine Heizung."
Aus den Klassenräumen nebenan hört man die Stimmen der jüngeren Kinder. "Aleph, Ba, Ta" - "A, B, C", singen sie gemeinsam. Die Kleinen lernen das arabische Alphabet. "Wir haben drei Klassen eingerichtet, die wir nach Wissensstand aufgeteilt haben", sagt Medyen al-Ahmad. Es gibt auch 9-Jährige unter ihnen, die vorher noch nie eine Schule von innen gesehen haben. Als der Krieg in vollem Gange war, hätten sie eingeschult werden sollen. Dazu kam es nie.
"Am Anfang hat uns eine Organisation geholfen", erzählt Medyen: "Jetzt machen wir alles alleine. Wir wollten, dass unsere Kinder ein Mindestmaß an Bildung erhalten. Auch wenn es nicht viel ist, aber das ist noch besser, als wenn sie weder schreiben noch lesen können oder rechnen."
Der 39-Jährige, der früher im Handel gearbeitet hat und zwei weitere Freiwillige, die in Syrien Lehrer waren, unterrichten die Kinder. Medyen al-Ahmad stammt aus einer wohlhabenden Familie. Doch der Krieg hat ihnen alles genommen. Als er 2012 in den Libanon kam, nahm er an Workshops von Organisationen teil, die sich um die Lage von Syrern im Libanon kümmern.
"Die Schüler reden oft davon, wie sie in Syrien zur Schule gegangen sind. Sie vergleichen ihre Situation", sagt Camp-Lehrer Muafak Melhem. Er hat in Syrien Grundschüler unterrichtet. "Sie zweifeln sehr oft, fragen sich, wie sie mit so wenig Bildung mal etwas werden sollen. Das bereitet den Kindern große Sorge." Denn eines ist bereits klar: Sie werden für die Zeit, die sie in der Zeltschule waren, keine Zeugnisse erhalten.
Kinderarbeit an der Tagesordnung
Die Zukunft der syrischen Kinder bereitet auch Medyen und seinem Team große Sorge. "Wir wollen die Kinder davon abhalten, auf Feldern zu arbeiten", sagt der hagere Mann. Selbst 8-Jährige schuften in Fabriken oder auf dem Bau. Einige landen in der Prostitution. Der Blick der libanesischen Politiker auf die Flüchtlingsthematik ist, wie so oft in diesem Land, von Sicherheitsfragen geleitet. Sie befürchten, dass junge, bildungsferne Männer von Extremisten rekrutiert werden könnten.
Der 15-jährige Hatem Ahmad arbeitet nach der Schule auf dem Feld oder im Bau. "Ich bekomme ungefähr 18.000 libanesische Pfund am Tag", erzählt er. Das sind umgerechnet etwa 10 Euro. Als ältester Sohn hilft er der verwitweten Mutter, die Familie zu ernähren. "Ich würde gerne mehr lernen, aber drei bis vier Stunden am Tag sind besser als nichts." Das sieht auch das Team der Zeltschule so. "Wir müssen etwas dagegen tun, dass wir eine ganze Generation syrischer Kinder verlieren", sagt der Camp-Gründer.
Der Libanon ist nicht imstande, etwas dagegen zu unternehmen: Zum einen blockiert die Politik im Land sich selbst: Seit drei Jahren können sich die Parteien auf keinen Staatspräsidenten einigen. Zum anderen liegt die Wirtschaft des Zedernstaates am Boden. Da bleibt es nicht aus, dass auch die syrischen Flüchtlinge im Libanon wirtschaftlich schlecht dastehen. Arbeiten dürfen sie nicht. Die meisten tun es dennoch, weil sie mit der finanziellen Unterstützung der Hilfsorganisationen nicht über die Runden kommen.
Viele bekommen aber selbst diese Hilfsgelder nicht. Dazu müssen sie registriert sein. Genau das hat die Regierung 2015 verboten. Sie selbst kümmert sich nicht um die Unterbringung der Flüchtlinge. Wenigstens auf dem Papier will sie den Eindruck erwecken, sie verhindere den Zuzug weiterer Flüchtlinge.
Jedes 2. Kind geht nicht zur Schule
Nach offiziellen Angaben des UNHCR sollen mittlerweile fast 1,1 Millionen Menschen aus dem Nachbarland im Libanon Schutz suchen, doch Schätzungen zufolge sind bereits zwei Millionen Syrer im Land. In einem Land mit 4,5 Millionen Einwohnern eine große Herausforderung. Die Geflüchteten aus dem Nachbarland belasten nicht nur die Beziehungen beider Länder, die schon vor dem Krieg in keinem guten Zustand waren, sondern auch die Infrastruktur. Dennoch waren die libanesischen Behörden zu Beginn der Syrien-Krise bemüht, die syrischen Kinder in Schulen unterzubringen
500.000 von ihnen sind nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch schulpflichtig. Die Hälfte von ihnen geht nicht in die Schule, kann nicht lesen, nicht schreiben, nicht rechnen."Wir wollen, dass noch mehr Kinder zu uns in die Schule kommen, denn sie haben ein Recht auf Bildung", sagt Medyen entschlossen. Doch die wenigsten Syrer können sich die Schulen leisten.
Besonders die Teenager machen Medyen zu schaffen. Es sei diese Generation, die sicher nicht mehr in eine Schule gehen werde, wenn der Krieg in Syrien einmal zu Ende geht, sagt Medyen. Die Lehrer wünschen sich, dass die Teenager einen handwerklichen Beruf erlernen können. "Diese Generation wurde mittendrin rausgerissen, sie wird immer älter", sagt Medyen. "Mit einer Ausbildung könnten sie sich zumindest am Aufbau unseres Landes beteiligen, wenn der Krieg einmal zu Ende geht."
Bessere Bedingungen schaffen für Syrer
Human Rights Watch fordert von der libanesischen Regierung, besonders jungen Kindern den Zugang zu libanesischen Schulen zu erleichtern. Gute Ratschläge hört die libanesische Regierung oft. Doch diese fordert von der internationalen Staatengemeinschaft mehr finanzielle Unterstützung für die Bewältigung der Aufgabe.
Hatem weiß, dass seine Generation es besonders schwer hat. Dennoch, den Libanon will er nicht verlassen. Er hofft immer noch auf eine Rückkehr nach Syrien - eines Tages. Doch eine Hoffnung hat er bereits begraben: " Früher hätte ich gesagt, ich will einmal Arzt werden. Aber jetzt habe ich die Hoffnung verloren."