Die Windmetropole Deutschlands
13. Februar 2020Die Lösung für die deutschen Energieprobleme liegt ziemlich genau in der Mitte Deutschlands, im Nirgendwo in Ostwestfalen, in dem 11.500-Seelen-Städtchen Lichtenau, das aus 15 Dörfern wie Kleinenberg oder Ebbinghausen besteht. Nach Lichtenau haben sich bisher weder Bundesumweltministerin Svenja Schulze noch Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier verirrt. Was schade ist.
Denn die deutsche Politik könnte hier beispielhaft sehen, wie der Ausbau von Windkraftanlagen funktionieren kann, wenn Kommunen, Bürger und Industrie an einem Strang ziehen – und am Ende alle davon profitieren.
Der Mann, der so etwas wie der Vater dieser Erfolgsgeschichte ist, will nicht lange warten und kommt direkt zur Sache. "Bevor Sie anfangen zu fragen, erkläre ich Ihnen erst einmal unser Projekt hier", sagt Josef Hartmann, der Bürgermeister von Lichtenau, und wischt mit seinen Fingern stolz über seine ausgedruckte Power-Point-Präsentation über die Energiestadt Lichtenau. Der 66-Jährige hat das Projekt schon Dutzende Male erklärt.
Vor allem auf den vielen Informationsveranstaltungen, die der SPD-Mann seit seinem Amtsantritt 2014 organisiert hat, um die Gegner der riesigen Spargel von den Vorteilen der Windkraft zu überzeugen. Hartmann hat dort auch gebetsmühlenartig wiederholt: "Wir sind eine arme Kommune, und das ist die einzige Möglichkeit, hier etwas zu gestalten. Der Wind ist das einzige Potenzial, das wir hier haben. Wir haben sonst nichts, wir haben keine Industrie, wir haben gar nichts."
Proteste gegen die Windkraft verstummen
Heute, sechs Jahre später, stehen in und um Lichtenau 173 Windkrafträder, die Stadt produziert neun Mal so viel Strom, wie es verbraucht, und könnte locker eine Stadt wie Kaiserslautern mit 100.000 Einwohnern versorgen. Die letzte große Demonstration war 2014, als 150 Bürger eines Dorfes lautstark vor der Stadtverwaltung gegen den Ausbau der Windkraftanlagen protestierten. Auch die Skeptiker der Bürgerinitiative "Pro Lichtenau", die "vom Untergang der Landschaft und unseres Lebensraumes" warnten, sind seit zwei Jahren still.
Wie hat Hartmann das geschafft? "Wichtig ist: Ich bin hier stark verwurzelt, ich kenne die Menschen, und sie trauen mir. Ich habe bei meinem Amtsantritt versprochen, dass wir einen rechtssicheren Flächennutzungsplan bekommen, wo die Betreiber nicht überall bauen können, wo sie wollen. Und das haben wir dann auch so durchgezogen."
Soll heißen: Die Windräder sind auf fünf Zonen verteilt, es gibt keinen sogenannten Wildwuchs. Sichtschneisen wurden geschaffen, damit sich die Bewohner nicht umzingelt fühlen, eine Schneise, die am Haus von Hartmann angrenzt, heißt deswegen sogar scherzhaft "Bürgermeisterschneise".
Lichtenau hat auch den Vorteil, mit fast 200 Quadratkilometern die größte Flächengemeinde Nordrhein-Westfalens zu sein, die Spargel verteilen sich. Der entscheidende Punkt aber ist: Die Bürger profitieren finanziell von den Windkraftanlagen, sehen dies jeden Tag bei ihrem Blick ins Portemonnaie.
Vom Wind haben in Lichtenau alle etwas
Die Lichtenauer bezahlen deutlich weniger für ihren Strom, die Trinkwasserpreise sind seit Jahren gleich, weil auch die Stadtwerke der Stadt sechs Windenergieanlagen betreiben, und auch die Steuern bleiben stabil, weil sich die Gewerbesteuer für die Stadt verdoppelt hat. Der Clou aber ist: Über eine Stiftung sind die Bürger mittelbar an den Erlösen der Windkraftanlagen beteiligt. Fast alle Anlagenbetreiber zahlen ein Prozent ihrer Gewinne in diese Stiftung ein, 200.000 Euro kommen so jedes Jahr zusammen.
Mit diesem Geld werden die zwei Grundschulen und die Realschule saniert, Zeltlager der Sportvereine gesponsert und zahlreiche kulturelle Veranstaltungen organisiert. Oder auch ein Bürgerbus angeschafft. "Wir hatten einen sehr schlechten öffentlichen Nahverkehr", erinnert sich Hartmann, "und dieser Bus sorgt dafür, dass zwei Dörfer von Lichtenau täglich angeschlossen sind und auch die Kinder zur Schule gefahren werden. Die Bürger müssen jeden Tag sehen, das etwas mit dem Geld passiert".
Kann die ostwestfälische Kleinstadt also ein Modell sein für ganz Deutschland? Ein Land, in dem zwar die große Mehrheit für Strom aus erneuerbaren Energien ist, in dem aber Bürgerinitiativen und Naturschützer mit ihren Klagen den Ausbau von Windkraftanlagen lahmlegen, die Politik tatenlos zusieht und die Windbranche massiv eingebrochen ist, auf ein historisches Tief von gerade einmal 325 neuen Windrädern im vergangenen Jahr.
Zwei Drittel des Stromverbrauchs will Deutschland bis 2030 aus Wasser, Sonne und Wind gewinnen, dazu müssten jedes Jahr mehr als 1500 Spargel gebaut werden. "Entscheidend ist, dass Sie mit den Bürgern kommunizieren und sie mitnehmen", lautet das Rezept von Josef Hartmann, "und die Städte müssen eigene Anlagen bauen. Vor allem aber müssen die Kommunen mehr unterstützt werden, indem sie zum Beispiel die komplette Gewerbesteuer der Anlagen kassieren dürfen und nicht wie jetzt nur 70 Prozent."
Optimismus schlägt Pessimismus
Von der Stadtverwaltung Lichtenaus und dem Büro des Bürgermeisters ist es nur ein Katzensprung zu Tobias Roeren-Wiemers, der Landwirt wohnt sogar in derselben Straße. Roeren-Wiemers ist einer derjenigen, die die Pläne von Josef Hartmann von Anfang an massiv unterstützt haben, für ihn ist der Bürgermeister der entscheidende Faktor, dass sich die Windkraft so in Lichtenau etablieren konnte.
"Sie brauchen ein Gesicht vor Ort, jemanden, der auch aus dem Ort kommt und die Menschen kennt", sagt der 32-Jährige, "dann läuft das Projekt ruhiger und entspannter, als wenn es von weit weg von einem Ortsfremden geplant wird."
Roeren-Wiemers wollte für Lichtenau aber noch mehr als niedrigere Strompreise, sanierte Schulen und kulturelle Aktivitäten. Er gehört zu den sieben Landwirten, welche die Lichtenauer Bürgerwind GmbH auf die Beine stellten, und ist heute Geschäftsführer dieses 260 Hektar großen Windparks.
Das Ziel, neben dem finanziellen Aspekt: eine noch umfassendere Bürgerbeteiligung: "Wir betreiben elf Windkraftanlagen und außerdem noch Photovoltaikanlagen. Daran sind über 200 Kommanditisten und 800 Genossenschaftsmitglieder beteiligt. Das heißt, die Bürger konnten bei uns im Windpark sowohl Genossenschaftsanteile über eine Energiegenossenschaft zeichnen als auch direkte Geschäftsanteile erwerben."
Auch Roeren-Wiemers vertrauten die Menschen, sie kennen ihn ja von der örtlichen Feuerwehr und als Vorsitzenden des heimischen Blasorchesters. Für ihn bedeutete dieser Vertrauensvorschuss aber gleichzeitig Verantwortung: "Ein solches Projekt hat dann einen hohen Anspruch und muss hieb- und stichfest sein." Als Betreiber hieß es dann auch, Kompromisse zu schließen. Sein Bürgerwindpark hätte gerne noch zwei Windräder mehr errichtet, doch einige Bürger sprachen sich dagegen aus.
Sich bei Konflikten irgendwo in der Mitte zu treffen ist das eine, das andere ist für den Landwirt eine komplett andere Herangehensweise: "Wir haben hier immer die positiven Aspekte nach vorne gestellt, Beteiligungsmöglichkeiten, Gewerbesteuer, die Stiftung."
Denn beim Thema Windkraft drehe sich die ganze Diskussion in Deutschland immer um die negativen Aspekte, so Roeren-Wiemers: "Wie kann ich Windräder verhindern, wie kann ich noch ein Schutzgebiet ausweisen? Man stellt hierzulande immer die Angst und die Probleme nach vorne."
Für Windradbauer der ideale Standort
Darunter leidet auch der größte deutsche Hersteller von Windenergieanlegen, ENERCON. Die Krise der Energiewende ist längst bei dem Unternehmen aus Aurich angekommen, Tausende Arbeitsplätze wurden gestrichen, die Zusammenarbeit mit deutschen Zulieferern von Rotorblättern eingestellt.
Trotz der miesen Geschäftsaussichten hat der Windradbauer in Lichtenau ein ultramodernes Technologie- und Schulungszentrum hochgezogen, schon weit entfernt sichtbar durch eine riesige graue Stahlgondel direkt vor dem Eingang. "80 Prozent der Windräder hier in Lichtenau sind von ENERCON", sagt Matthias Wiegard, der technische Trainer für Elektrotechnik, "man hat hier Anlagen jeden Alters und aller Klassen und damit perfekte Schulungsbedingungen."
Elektriker und Monteure frischen hier ihre Grundkenntnisse auf, IT-Spezialisten lernen, die Daten der Windräder zu analysieren, und beim Sicherheitstraining werden Rettungen aus luftiger Höhe simuliert. Sogar Forscher der Neumayer-Station in der Antarktis werden hier jeden Oktober für drei Tage ausgebildet, weil es nur noch zwei Windkraftanlagen des Typs E-10 gibt: eine im ewigen Eis, eine in Lichtenau.
Der Standortvorteil: die Lage und die guten Beziehungen zur Kommune. "Lichtenau liegt natürlich sehr zentral in Deutschland, und die Stadt hat direkt gesagt, als sie von den Plänen erfuhr: Warum macht ihr das nicht bei uns?" erinnert sich Wiegard. Dazu komme ein nicht zu unterschätzendes Argument: "Der Vorteil in Lichtenau ist, dass man hier alle Bürger auf der Seite der Windkraft hat!"
Die Betreiber in Lichtenau wiederum haben kurze Wege und die Experten vor Ort, wenn sie zum Beispiel ihre Windräder warten oder instandhalten müssen. Trotzdem: ENERCON versucht, sich angesichts der schwierigen Bedingungen in Deutschland zu internationalisieren, baut Anlagen in Kanada, der Türkei, Schweden oder Finnland. Selbst in Neuseeland oder Indien stehen mittlerweile die Räder des deutschen Unternehmens.
Matthias Wiegard will die Hoffnung trotzdem nicht aufgeben, dass Deutschland beim Thema Windkraft noch die Wende schafft – und setzt dabei auch auf die nachfolgenden Generationen: "Die Kinder hier in Lichtenau stehen morgens auf und sehen als erstes die Windräder. Und wenn man sie hier fragt, woher denn der Strom kommt, sagen sie: Wind und Sonne, immer zuerst die erneuerbaren Energien. Und ganz zum Schluss erst Atomkraft und Kohle."