Der "Buchhalter" von Auschwitz
21. April 2015"Ich kann ihm nicht vergeben". Mit diesen Worten fasst Max Eisen, Auschwitz-Überlebender aus Toronto, seinen Eindruck vom ersten Prozesstag in Lüneburg zusammen. Der 86-jährige Eisen ist einer der Nebenkläger im Prozess gegen den ehemaligen SS-Mann und mutmaßlichen NS-Kriegsverbrecher Oskar Gröning. Zum Auftakt des Prozesses gegen ihn vor dem Landgericht Lüneburg hat Gröning eine "moralische Mitschuld" an den Verbrechen im Vernichtungslager Auschwitz eingestanden.
Die Staatsanwaltschaft wirft ihm Beihilfe zum Mord in 300.000 Fällen vor. Gröning habe im Frühjahr 1944 Spuren der Massentötung von Juden aus Ungarn verwischt, indem er das Gepäck der ankommenden Häftlinge wegschaffte. "Durch seine Tätigkeit unterstützte der Angeklagte das fortlaufende Tötungssystem", so Staatsanwalt Jens Lehmann.
Gröning, heute 93 Jahre alt, räumte zumindest eine moralische Mitschuld am Massenmord in Auschwitz ein. "Zu dieser moralischen Schuld bekenne ich mich auch hier mit Reue und Demut vor den Opfern", sagte der ehemalige SS-Unterscharführer vor Gericht. "Über die juristische Schuld müssen Sie entscheiden." Zu Grönings Aufgaben hatte unter anderem gehört, Geld aus dem Gepäck der Gefangenen an Hitlers paramilitärischer "Schutzstaffel" (SS) weiterzuleiten. Er sei auch Zeuge einer Vergasung geworden, sagte Gröning. Mit der Bewachung der Häftlinge habe er jedoch nichts zu tun gehabt.
Ekel und Erleichterung
An diesem ersten Prozesstag habe Gröning viel gelogen, meint dazu der Auschwitz-Überlebende Max Eisen. "Er hat den Eindruck erweckt, dass er nicht wirklich Bescheid wusste", berichtet Eisen. "Er sagt, er sei durcheinander gewesen, als er nach Auschwitz kam. Ich war 15, als ich dort ankam, und ich war nicht durcheinander." Eisens Großeltern, Mutter und Geschwister waren in Auschwitz direkt nach ihrer Ankunft vergast worden. Er verspüre Ekel darüber, dass Gröning der Frage des Richters ausgewichen sei, ob seine damalige Arbeit zur Vernichtung der Juden beigetragen habe.
"Er versucht, mit seiner Schuld umzugehen", sagt dagegen Eva Kor, Auschwitz-Überlebende aus den USA, zum Auftritt des früheren SS-Manns vor Gericht in Lüneburg. "Er hätte sich wie tausende andere Nazis im Schatten verbergen können", so Kor. "Wenige hatten den Mut, nach vorne zu treten."
Nach einem langen Tag verließ Gröning heute als einer der Ersten den Gerichtssaal, wirkte gebrechlich, als ihm Pfleger in ein Auto halfen. "Es war sehr ermüdend für ihn", so sein Anwalt Hans Holtermann. "Aber ich glaube, er war erleichtert, über seine Taten zu sprechen." Holtermann wollte sich nicht dazu äußern, ob Gröning gesund genug ist, um an allen 27 Prozesstagen teilnehmen zu können.
Holocaust-Leugner beim Auschwitz-Prozess
Der Prozess in Lüneburg könnte einer der letzten gegen mutmaßliche NS-Kriegsverbrecher sein. Zahlreiche Reporter sind aus dem Ausland angereist, in der warmen Aprilsonne standen Kamerateams vor dem Gebäude, in dem der Prozess stattfindet, Dolmetscher übersetzen das Verfahren auf Englisch, Hebräisch und Ungarisch. Schon am Morgen vor Prozessbeginn herrschte vor dem Eingang Unruhe. In der langen Warteschlange vor dem Gebäude standen rund 40 Vertreter einer antifaschistischen Initiative und etwa zehn Neonazis. Erstere waren gekommen, um stellvertretend anzustehen für Angehörige von Auschwitz-Überlebenden. Damit wollten sie den Familien der Nebenkläger Plätze im Gerichtssaal sichern.
Wegen des großen Interesses musste das Gericht eigens einen Veranstaltungsraum, die "Ritterakademie" mieten, dennoch reichten die Plätze nicht aus. Als "späte Siegerjustiz der Alliierten", bezeichnet Thomas Wulff, einer der Neonazis vor dem Gebäude, den Prozess. "Oskar Gröning ist ein Opfer des deutschen Justizsystems", so der Anführer der kleinen Gruppe, die Journalisten und antifaschistische Aktivisten in hitzige Debatten über den Holocaust verwickelte. Polizisten forderten die Gruppe von Neonazis schließlich auf, das Gelände zu verlassen. Das Leugnen des Holocaust ist in Deutschland strafbar.
Der Prozess gegen Gröning könnte eine Kehrtwendung für die Justiz in Deutschland bedeuten, meint Anwalt Thomas Walther, der mehr als 40 Auschwitz-Überlebende vertritt. Er hat jahrelang daran gearbeitet, mutmaßliche Täter vor Gericht zu bringen. Von den geschätzt 6500 SS-Leuten in Auschwitz wurden nur ungefähr 50 in Deutschland verurteilt. "Die Strafe spielt für die Betroffenen keine oder nur eine untergeordnete Rolle", sagt Walther im DW-Interview. Wichtig sei ihnen, dass das Gericht und die deutsche Justiz ihnen zuhörten und dass eine Antwort der Justiz im Sinne der Gerechtigkeit erfolge. Auch Walther zeigte sich enttäuscht vom Auftreten Grönings und dessen Eingeständnis einer "moralischen Schuld". "Wie würden sie sich bei diesem Begriff fühlen, wenn es um den Mord an Ihren Eltern geht?", so der Anwalt. Ein Urteil im Fall Gröning wird für Ende Juli erwartet.