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Der Fussball-Gott wird 50

3. November 2010

Anlässlich des 50. Geburtstags von Diego Maradona - ein Gespräch mit dem Schriftsteller Eduardo Sacheri über die argentinische Hassliebe zur legendären "Nummer 10".

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Bild: AP

Eduardo Sacheri, 1967 in Buenos Aires geborener Fußballfan, ist Professor für Geschichte, Radiomoderator und Schriftsteller. Unter anderem hat er das Drehbuch zum diesjährigen Oscargewinner "Das Geheimnis ihrer Augen" sowie zahlreiche Fußballgeschichten geschrieben. Eine Auswahl ist nun unter dem Titel "Die Hand Gottes und andere Tangos" auf deutsch erschienen. Außerdem ist Sacheri flammender Fan des argentinischen Erstliga-Clubs Independiente. DW-Reporterin Anne Herrberg hat Eduardo Sacheri in Buenos Aires getroffen und mit ihm über Diego Maradona und seine Bedeutung für Argentinien gesprochen.

Historiker, Buchautor und bekennender Fußballfan: Eduardo Sacheri (Foto: AP)
Historiker, Buchautor und bekennender Fußballfan: Eduardo SacheriBild: COFRA

DW-WORLD.DE: Herr Sacheri, am Samstag wird ein gewisser Diego Maradona 50 Jahre alt. Feiern Sie mit?

Eduardo Sacheri: Nun, ich hatte leider nicht das Glück Maradona persönlich kennenzulernen. Aber klar, Maradona hat einen ganz besonderen Platz in meinem Leben. Er löst bei mir so viele, vor allem so viele widersprüchliche Gefühle aus. Er ist der beste Fußballspieler, den ich jemals gesehen habe, er ist der Held der Weltmeisterschaft von 1986. Ich habe das Gefühl, ich schulde ihm sehr viel, auch wenn er sich leider häufig in seinen Entscheidungen geirrt hat und sich dadurch vor allem selbst Schaden zugefügt hat.

Vor kurzem wurde eine Auswahl ihrer Fußballgeschichten auf Deutsch veröffentlicht, unter dem Titel "Die Hand Gottes und andere Tangos". Wie haben Sie den Tag des Viertelfinales gegen England in der Weltmeisterschaft 1986 erlebt, als Maradona ein Tor durch Handspiel zu "Hand Gottes" stilisierte?

Das war ein unvergesslicher Tag! Und es war ein seltsamer Gefühlsmix. Obwohl ich es ablehne, Parallelen zwischen dem Sport und der Politik und noch viel weniger mit dem unverzeihlichen Horror des Krieges zu ziehen, so war es damals eben schon kein Detail, dass wir gerade erst, 1982 eine furchtbare Niederlage gegen Briten im Falklandkrieg erlebt hatten. Dieser grausame und sinnlose Krieg hat eine tiefe Wunde bei den Argentiniern hinterlassen, die 1986 noch sehr frisch war. Natürlich hat ein Fußballsieg gegen England an diesem Schmerz nichts verändert, eine Niederlage allerdings hätte ihn wahrscheinlich noch verschlimmert.

Die Hand Gottes: im Viertelfinale gegen England boxt Maradona den Ball zum 1:0 ins Tor (Foto: dpa)
Die Hand Gottes: im Viertelfinale gegen England boxt Maradona den Ball zum 1:0 ins TorBild: picture-alliance/ dpa

Zum einen war es das Gefühl, es dem Geburtsland des Fußballs zu zeigen. Einem Land, das in so viele Aspekten, politisch und wirtschaftlich, immer gewöhnt war, sich das größte Stück vom Kuchen zu sichern. Maradonas erstes Tor war ein Handspiel, also eigentlich ungültig. Aber damit war es gleichzeitig für viele Argentinier glaube ich ein kleines "Heimzahlen" für eine Menge viel gravierender und schmerzlicher Ungerechtigkeiten, die unser Land in seiner Geschichte erleiden musste. Wäre es bei dem einen Tor geblieben, hätte das Ganze natürlich trotzdem einen schlechten Nachgeschmack gehabt.

Aber dann kam das 2:0, Maradonas unglaubliches Dribbling, bei dem er über die Hälfte der englischen Mannschaft im Alleingang umspielte. Vom Mittelfeld bis zum Tor. Da wussten wir alle: dieser Kerl beherrscht die Perfektion des Fußballs auf eine Art und Weise, wie wir es in Argentinien lieben. Es war ein Tanz, eine fast musikalische Komposition, ein Dialog zwischen Körper und Rasen und Ball. Die reine Fußballkunst.

Fest steht: Bis zu diesem Viertelfinalspiel war Maradona ein guter Fußballspieler, die Fans von Argentina Juniors und Boca Juniors, also von den Mannschaften, in denen er gespielt hatte, liebten ihn. Aber die Mehrheit hatte nicht viel für ihn übrig. Seine Herkunft, sein oft prolliges Auftreten, seine schnell wechselnden Launen, das machte ihn für viele zu einer eher unangenehmen Person. Aber dann kam dieses Spielt und seitdem verspürt die Mehrzahl der Argentinier eine große Dankbarkeit ihm gegenüber- bis heute.

Krippe mit Maradona-Figur in der Maradonianischen Kirche in Buenos Aires (Foto: AP)
Das gibt's nur in der Maradonianischen Kirche: Krippe mit Maradona-FigurBild: AP

Also doch: Maradona, der Rächer des Falklandkrieges?

Wie gesagt, ich mag diese martialischen Ausdrücke nicht und man darf nicht vergessen, dass Fußball, auch und gerade in Argentinien, immer wieder für politische Zwecke missbraucht wurde. Man denke nur an die Weltmeisterschaft 1978. Die Gefahr, glaube ich, liegt darin, zu glauben, der Fußball könnte die essentiellen Dinge im Leben und in einer Gesellschaft ersetzen. Kein Fußballspiel kann verdecken, wie es um den sozialen Zusammenhalt, um das Miteinander, um das Gewissen einer Gesellschaft steht - oder eben, wie dieses Gewissen, die soziale Verantwortung, die Menschenrechte mit Füßen getreten werden. Kurz: wie der soziale Pakt gebrochen wurde, damals in der Militärdiktatur. Denn mit den Jubelrufen aus dem Stadion wurde ja versucht, schlimmer noch, es wurde geschafft, die Schreie aus den Folterzentren der Militärdiktatur zu übertönen. Keine noch so große Fußballbegeisterung darf das Denken aussetzen lassen und uns vergessen lassen, was das Essentielle ist. Fußball ist großartig, aber es ist nicht das Fundament einer Gesellschaft. Wenn man das glaubt, dann wird aus der Liebe zum Fußball Fanatismus und eine Gefahr.

Argentinien ist ja unter anderem auch berüchtigt für die Barras-Bravas, mordsgefährliche Hooligans. Über 200 Menschen sind durch Auseinandersetzungen dieser radikalen Fanblöcke ums Leben gekommen...

Furchtbar. Genau das meine ich, wenn ich sage, dass die Gefahr eines solch elektrisierenden Massensports, wie es eben Fußball und vor allem in Argentinien ist, darin liegt, dass man ihn als Mittel für etwas benutzt.

Diego Maradona hält den Fußball-WM-Pokal 1986 in die Höhe (Foto: AP)
Weltmeister 1986 - Diego Maradona jubelt und lässt sich feiernBild: AP

Noch einmal zurück zu Maradona: Eine ihrer Fußballgeschichten ist ihm gewidmet und mit dem Titel "Sie müssen mich schon entschuldigen" überschreiben. Darin heißt es:

"Sie müssen mich schon entschuldigen. Ich weiß, dass jemand, der ein guter Mensch sein will, sich an bestimmte Normen halten, bestimmte Gebote befolgen, sein Wesen mit allgemeingültigen Regeln in Einklang bringen muss. Oder genauer gesagt. Wenn jemand ein vernünftiger Mensch sein will, muss er an sein eigenes Verhalten den gleichen Maßstab anlegen wie an das der anderen (...) sich nicht durch Liebe oder Hass von seiner Logik abbringen zu lassen. Aber Sie werden mich entschuldigen müssen, meine Damen und Herren. Es gibt da einen Kerl, bei dem ich es nicht kann. Wohlgemerkt, ich versuche es. Ich sage mir: Es darf keine Ausnahmen geben, darf es einfach nicht. Und die Entschuldigung, um die ich Sie bitten muss, ist um so größer, als dieser Kerl, von dem ich spreche, kein Wohltäter der Menschheit ist, kein Heiliger und auch kein tapferer Soldat, nichts dergleichen."

Maradona mit kubanischer Zigarre und Militärmütze à la Fidel Castro (Foto: AP)
Che Guevara und Fidel Castro sind seine Vorbilder: Maradona auf KubaBild: picture-alliance / dpa

Das zeugt ja schon von einer gewissen paradoxen oder Hassliebe zu Maradona, die sie da beschreiben. Woher kommt das?

Nun, ich denke, weil die Argentinier, wie bei vielen anderen Themen, immer hin- und hergerissen sind. Einmal so, einmal so. Wir sind unentschlossen, sicher ein bisschen opportunistisch, aber auch im positiven Sinne, der Wandel charakterisiert uns. So geht es uns auch mit Maradona. Für Momente verziehen wir ihm alles, dann wieder lehnen wir ihn mit aller Grausamkeit ab, zu der wir fähig sind.

Der Fußballreporter Víctor Hugo Morales, der das Viertelfinale damals 1986 mit seinem geschichtsträchtigen Kommentar noch geschichtsträchtiger machte ("Kosmischer Drachen, von welchem Planeten kommst du, unglaublich, das ist zum heulen, Danke an Gott, danke an den Fußball, Diego Maradona!!!!") hat einmal gesagt: "Maradona repräsentiert die argentinische Seele wie kein zweiter"…

Absolut. Er personifiziert die argentinische Seele, unsere guten und unsere schlechten Seiten. Er ist eine Kombination aus Talent, Rebellion, Improvisation, Sarkasmus, Trägheit, Egoismus und Inspiration. Und ich glaube, das passt ganz gut zu uns Argentiniern.

Und am "Mythos Maradona" kratzt nicht ein bisschen, dass er seinen Job als Trainer der argentinischen Nationalelf, gelinde gesagt, verbaselt hat?

Ich glaube, Maradona kann gar nicht anders leben. Irgendetwas in ihm zwingt ihn dazu, alles immer wieder aufs Spiel zu setzen: seine Gesundheit, seine Legende, sein Prestige. Unstet und windig wie wir eben sind, akzeptieren wir dieses Schicksal. Manchmal bewundern wir es, manchmal verurteilen wir es, aber am Ende verzeihen wir ihm immer.

Im Einband ihres Buches heißt es: Es gibt Leute, die behaupten, Fußball habe nichts zu tun mit dem Leben, dem Menschen, dem Wesentlichen. Was diese Leute vom Leben wissen, kann ich nicht sagen. Aber eines weiß ich bestimmt: Vom Fußball haben sie keine Ahnung." Was erzählt Fußball von ihrem Leben?

Maradona zeigt sich 2005 nach einer Entzugskur der Presse - er ist stark übergewichtig (Foto: AP)
Maradona vor fünf Jahren - hinter ihm lagen mehrere DrogenentzugskurenBild: picture alliance/dpa

Fußball ist eine Quelle für Lebensfreude. Bei mir zumindest. Seit meinem achten Lebensjahr stehe ich mit meinen Kumpels irgendwann in der Woche auf dem Bolzplatz, auch heute mit 42 noch. Und wenn meine Körper mitmacht, noch bis, na sagen wir mal 65. Ich liebe es, Fußball zu gucken, meine Mannschaft anzufeuern, ins Stadion zu gehen, die Spannung und das Feuer auf der Tribüne einzusaugen und mitzuatmen. Diese 22 Spieler in Aktion zu sehen, das ist einfach ein grandioses Spektakel.

Und man lernt dabei immer auch etwas über das Leben. Wenn man spielt, lernt man sich und seine Mitspieler besser kennen. Man lernt zu gewinnen, zu verlieren und zu verstehen. Ich glaube, es gibt wenige Aktivitäten im Leben, die einem so viel beibringen und auf eine so komprimierte und exakte Art und Weise. Das hat mich sicher auch zu meinen Geschichten verleitet. Mein Interesse war, einfache und alltägliche Leute und Situationen zu porträtieren, das Universum zu erkunden, in dem ich mich selbst bewege. Ich mag es, die Kunst in der Einfachheit zu finden, im Leben der normalen Leute. Und in Argentinien, da gehört zu diesem Kontext Fußball einfach dazu.

Es gibt sogar eine "maradonianische Kirche" in Argentinien, einen Friedhof für Boca-Fans, keine andere Stadt auf der Welt hat so viele Proficlubs wie Buenos Aires... übertreibt ihr es da nicht vielleicht auch ein bisschen mit der Liebe zum Fußball?

Buenos Aires wäre gar nicht zu denken, ohne Fußball. Wir gucken Fußball, wir reden über Fußball, wir spielen Fußball, wir tragen unsere Fußball-Shirts zur Schau. Ich bin ein glühender Fan vom Club Independiente aus Buenos Aires-Avellaneda, dem drittwichtigsten Club Argentiniens. Als ich in Frankfurt auf der Buchmesse eingeladen war und abends ein bisschen Joggen am Main war, da hab ich immer mein "Independiente"-Shirt angezogen, das ist ganz normal in Argentinien, ganz natürlich. Fußball repräsentiert uns, er ist unsere Stütze und Teil unserer Identität. Und ich weiß natürlich, dass meine Liebe zu Independiente vor allem sonntags, wenn Spiel ist, manchmal etwas seltsam und übertrieben wird, das gehört eben dazu.

In Deutschland sind die Leute nicht ganz so krass, scheint mir, oder Frankfurt war der falsche Ort, um es zu merken. Aber wie gesagt, man darf auch nicht zu fanatisch sein und Fußball über alles setzen, wir haben ja schon darüber gesprochen, welche Gefahren das birgt, die Barra-Bravas, die Manipulation durch die Politik.

Als Deutsche kann ich mir die letzte Frage jetzt natürlich nicht verkneifen: Argentinier und ihre Liebe zum Fußball.... und dann kommen die Deutschen, uns schmeißen die Albiceleste nun zum zweiten Mal aus der Weltmeisterschaft....

Buchcover: "Die Hand Gottes und andere Tangos - Fußballgeschichten" von Eduardo Sacheri, Berlin Verlag 2010
"Die Hand Gottes und andere Tangos - Fußballgeschichten" von Eduardo Sacheri, Berlin Verlag 2010Bild: alibi

Uhhhh.... das ist wohl ironisch gemeint? Dann muss ich sagen: Ich erinnere mich nur zu gut und mit größter Genugtuung an den Tango, den wir Deutschland 1986 bescherten und das zaubert mir bis heute ein Lächeln aufs Gesicht... Nein, im Ernst: Deutschland hat immer einen hervorragenden Auftritt hingelegt. Ihr habt zwar nicht diesen Stil, den wir Argentinier haben, aber andere, genauso würdige Eigenschaften. Ich kann es ertragen (abgesehen vom der verständlichen ersten Enttäuschung über die Niederlage), dass wir von so einer guten Mannschaft besiegt wurden.

Her Sacheri, ich danke Ihnen für das Gespräch.

Das Gespräch führte Anne Herrberg.

Redaktion: Mirjam Gehrke

Buchtipp:
Eduardo Sacheri: "Die Hand Gottes und andere Tangos", aus dem argentinischen Spanisch von litprom - Gesellschaft zur Förderung der Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika e.V., Berlin Verlag, 192 Seiten, 19,90 Euro