Dieter Wellershoff ist tot
15. Juni 2018Die Sprecherin seines Verlages Kiepenheuer & Witsch teilte am Freitag (15.06.) der Deutschen Presse-Agentur (dpa) mit, dass Dieter Wellershoff in seiner langjährigen Wahlheimat Köln verstorben sei. Wellershoff war Zeit seines Lebens anerkannter Autor und Literaturtheoretiker. Viele seiner Werke wurden ausgezeichnet, unter anderem mit dem Heinrich-Böll-Preis und dem Hölderlin-Preis. In seiner wissenschaftlichen Arbeit reflektierte er seinen Literaturbegriff als Autor und den Bezug zum Literaturbetrieb.
Horror des Krieges
Wellershoff wird 1925 in Neuss als Sohn eines Kreisbaumeisters geboren und wächst in Grevenbroich auf. Mit 17 Jahren meldet er sich freiwillig zur Wehrmacht und wird Infanterist an der Ostfront. Von dieser Zeit erzählt er im DW-Special "Mit 17... Das Jahrhundert der Jugend". "Ich bin auch von der SS angesprochen worden", erinnert er sich, "komm zu uns. Zur Waffen-SS. Wir sind die Startruppe schlechthin." Doch der Vater rät ihm ab. Statt zur SS meldet sich Wellershoff schließlich bei der Panzerdivision Hermann Göring - auch dies eine Elitetruppe der Nazis.
Das erste, was er an der Ostfront wahrnimmt, so erzählt er im DW-Special, sei der Leichengestank gewesen. Ein Jahr später - 1944 - wird er in Litauen schwer verwundet und muss mehrere Monate im Lazarett verbringen. Ein Jahr darauf gerät er in Kriegsgefangenschaft. Die furchtbaren Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs verarbeitet er, wie viele andere Schriftsteller seiner Generation, in seinen autobiografischen Romanen. Später sagt er: "Es ist so unwahrscheinlich, dass ich das überstanden habe. Ich habe so viele Tote, so viele Sterbende gesehen."
Das große Glück, am Leben zu sein
Als Wellershoff schließlich aus der Kriegsgefangenschaft kommt, so erinnert er sich im DW-Video, ist er erstaunt, über das große Glück, den Krieg unversehrt überlebt zu haben. "Es war ein Gefühl des Staunens. Etwas ganz Neues beginnt. Vor allem das Gefühl: Verdammt noch mal, wie kommt das, dass ich am Leben geblieben bin? Gar nichts ist kaputt bei mir. Ich lebe. Das ist ja fantastisch. Da willst du was draus machen."
1946 macht Wellershoff sein Abitur. Nach Studium und Promotion in Bonn wird er zunächst Redakteur bei der "Deutschen Studentenzeitung", ab 1959 tritt er als Lektor für Wissenschaft und deutsche Literatur in den Kölner Verlag Kiepenheuer & Witsch (KiWi) ein, wo er später zahlreiche junge Autoren fördert. Zu Beginn der 1960er Jahre liest er mehrmals bei der "Gruppe 47" und übernimmt 1962/1963 an der Münchner Universität vier Poetik-Vorlesungen.
Vertreter des Neuen Realismus'
In Schriften wie "Wiederherstellung der Fremdheit" (1967) und "Fiktion und Praxis" (1968) entwickelt er seine Konzeption des "Neuen Realismus'" oder auch der "Kölner Schule des Neuen Realismus'". Darin fordert er eine "phänomenologisch orientierte Schreibweise", die, im Gegensatz zur gängigen deutschen Literatur der Zeit, das "alltägliche Leben" oder auch die "pathologische oder kriminelle Abweichung" von Individuen in den Mittelpunkt rückt.
1966 erscheint sein erster Roman "Ein schöner Tag" - ein Text über das "Gegeneinanderleben in einem lädierten Kölner Kleinbürgerhaushalt ", wie das Magazin "Der Spiegel" damals schrieb. Obwohl Wellershoff die Romanform für das beste Medium hält, um psychische und gesellschaftliche Einflüsse auf potenzielle Gewalttäter zu erfassen, schreibt er außerdem eine Reihe von Hörspielen und einige Fernseh-Szenarien.
Großer Erfolg bei Kritik und Leserschaft
"Die Sirene" (1980) gilt als eine von Wellershoff wichtigsten literarischen Arbeiten. Eine unbekannte Anruferin, die "Sirene", zieht den Universitätsprofessor Elsheimer in ihren Bann und lässt seine soziale Verankerung wanken. Nur seine Zurückweisung der "Sirene" kann ihn, angeschlagen aber befreit, zurücklassen. Auch hier geht es dem Autor vor allem um die psychologische Komponente, den Übergang vom normalen zum pathologischen Verhalten seines Protagonisten.
Den großen Durchbruch beim Publikum bringt ihm im Jahr 2000 "Der Liebeswunsch". Es ist ein Liebesdrama um zwei junge Paare, die auf ein emotionales Desaster zurasen. Der Roman wird innerhalb eines halben Jahres sieben Mal aufgelegt und 2005 auch fürs Kino verfilmt. Die Literaturkritiker schätzen ihn zu dem Zeitpunkt bereits seit Langem.
Parallele Karriere
Von 1981 an ist Wellershoff nicht mehr beim Verlag beschäftigt, sondern ausschließlich als freier Schriftsteller und Dozent tätig. Er hält Poetik-Vorlesungen an den Universitäten Essen und Paderborn, wird Gastdozent an Universitäten in Florida und Frankfurt. Mit dem Essayband "Der verstörte Eros" (2001) legt Wellershoff mit "profunder Kennerschaft" (SZ, 03.02.2002) eine kulturanalytische, psychologisch motivierte Literaturgeschichte des Begehrens von Goethe bis Houellebecq vor.
Im Juni 2006 wird in der Wochenzeitung "Die Zeit" bekanntgegeben, Wellershoff sei seit dem Hitlerattentat vom 20. Juli 1944 von der NSDAP als Mitglied geführt worden. Einen Monat später sowie im Juni 2009 dementiert Wellershoff in einem Essay im Spiegel, einen Mitgliedsantrag gestellt zu haben, was ihm das Bundesarchiv in Berlin bestätigt. Er bricht in seinem Artikel die Lanze für viele Männer der Jahrgänge 1925-1927, die unwissentlich in den Mitgliedslisten der NSDAP geführt wurden.
Dieter Wellershoff zählt zu Deutschlands wichtigsten Autoren seiner Generation. Seine Erfahrungen aus dem Krieg hat er in große Literatur verwandelt. Er schrieb bis zu seinem Tod. Nicht mehr auf dem Computer, sondern wieder mit Hand.
pj/bb (DW, dpa, Munzinger)