Corona treibt die Digitalisierung an
18. August 2020Elf Kameras und rund 40 Menschen verfolgen gebannt die Premiere: Eine hochkomplexe Abfüllanlage des Sondermaschinenbauers Optima wird vom amerikanischen Kunden nicht vor Ort, sondern per Videostream abgenommen. Die neue Linie soll 30 Kosmetika-Varianten in verschiedene Behältnisse abfüllen. Die Mitarbeiter des Kunden sind live dabei, wenn eine Woche lang jeder Schritt getestet wird. Per Chat und Audioübertragung können sie zudem mit dem Optima-Team in Schwäbisch Hall kommunizieren.
Erst Corona machte den Weg für eine derart komplexe Werksabnahme per Streaming frei. "Das setzt ein Maximum an Vertrauen voraus", meint Heiko Kühne, Vize-Präsident Cosmetics & Chemicals des mittelständischen Maschinenbauers. Wenn das gegeben sei, habe das virtuelle Verfahren sogar Vorteile. "Bei bestimmten Themen können weitere Experten des Kunden hinzugezogen werden, die nicht zum Abnahmeteam gehören". Auch späteres Bedienpersonal, das normalerweise nicht mit einreise, könne sich schon mal mit den Maschinen vertraut machen. Ins Meeting klinken sich zudem Kernlieferanten von Optima ein, um bei Bedarf Fragen zu beantworten.
Ideen mussten schneller reifen
Da die Premiere im April gelungen ist, bereitet der Mittelständler weitere virtuelle Abnahmen vor. Zudem hat er seinen Kunden einen Software-Assistenten für die Inbetriebnahme, Fehlersuche oder Wartung angeboten. Der Optima-Experte schaltet sich zu, um Maschinenbediener bei der Aufgabe anzuleiten.
Zudem kann er ihnen Videos oder Betriebsanleitungen auf das Smartphone, Tablet oder die Datenbrille schicken. "Die Corona-Pandemie hat die Entwicklung digitaler Produkte weiter beschleunigt", so Benjamin Häfner, Leiter Industrial IT beim Unternehmen aus Schwäbisch Hall.
Und nicht nur dort wirkte die Pandemie als Katalysator. Viele Firmen haben sich innerhalb kürzester Zeit für Ideen entschieden, für die sie sonst viel länger gebraucht hätten, förderte eine Umfrage des Vereins Deutscher Ingenieure (VDI) zutage. Sie gingen höhere Risiken ein, probierten aus, passten Details im Nachhinein an.
Diejenigen, die schon Remote-Dienste in der Entwicklungspipeline hatten, haben sie zügig hervorgekramt. Der Fernzugriff auf Maschinen und Anlagen diente noch Anfang 2020 vor allem dazu, Reisekosten und Arbeitszeit der Servicetechniker zu sparen. Heute gilt er als wichtigstes Mittel, angesichts von Reisebeschränkungen und Ansteckungsgefahr eine möglichst reibungslose Produktion zu ermöglichen.
Alles in 3D - und die Hände sind frei
Früher wurden dafür Telefonate geführt sowie Mails und WhatsApp-Nachrichten mit Fotos, Zeichnungen und Kommentaren hin und hergeschickt. Mit Hilfe von Augmented Reality (AR) funktioniert eine "Schritt für Schritt-Anleitung" aber viel schneller und bequemer. "AR unterstützt den Arbeiter vor Ort, indem weitere Informationen wie Status, Fehler oder Leistungsparameter direkt am Betrachtungsobjekt ins Gesichtsfeld eingeblendet werden", erklärt Prof. Tobias Rieke, der an der FH Münster über Digitalisierung in der Industrie forscht.
Bei Verständigungsproblemen, wenn man vor Ort Hände und Füße zur Hilfe nehmen würde, helfe es, dass man so Bauteile markieren und Details hervorheben könne. Das alles sei auch mit Tablet und Co. machbar, der Vorteil einer AR-Brille aber sei, "ich sehe alles direkt in 3D und habe zudem beide Hände frei". Bilfinger Maintenance setzt die Brillen regelmäßig ein, wenn Spezialwissen für bestimmte Wartungs- oder Reparaturarbeiten erforderlich ist. Die Hardware müsse auch unter rauen Bedingungen funktionieren: bei Lärm oder in Bereichen mit Explosionsgefahr.
Die Technologie hat dem Industriedienstleister das eine oder andere Projekt in Corona-Zeiten gerettet. Bilfinger hatte gerade ein Optimierungsvorhaben in Polen gestartet, als der Lockdown den Zutritt zum Werk des Kunden versperrte. Die polnischen Mitarbeiter bekamen deswegen Datenbrillen: Die Berater schauten sich die Anlagen sozusagen durch ihre Augen an.
Experten haben Vorrang
Das Hinzuziehen menschlicher Experten hat derzeit klar Vorrang vor der direkten Unterstützung durch in Systemen gespeichertes Wissen und KI, meint Arbeitsforscherin Amelia Koczy vom Institut für angewandte Arbeitswissenschaft (ifaa). "Die Idee, alle zukünftig benötigten Informationen z.B. für eine Störungsbehebung bereits im Vorfeld zusammenzutragen, auf einer Festplatte zu speichern und über das System jederzeit abrufbar zu machen, ist mit Sicherheit reizvoll."
Das hieße jedoch, im Vorfeld alle potenziellen Fehler, Störungen, Situationen, die Ursachen und die möglichen Lösungen zu beschreiben: ein sehr großer Aufwand. "Insbesondere bei komplexer werdenden Maschinen und Anlagen potenzieren sich die möglichen Ursachen und die benötigten Informationen". Fachleute zu fragen - ob die eigenen an einem anderen Standort oder externe Experten - sei deshalb der pragmatischere Weg.
Ausprobieren, um den Nutzen zu erkennen
"Viele Hersteller bieten Funktionen zur klassischen Ferndiagnose an, da moderne Maschinen und Anlagen fähig sind, ihren Status, Sensordaten usw. online zur Verfügung zu stellen", sagt Prof. Rieke. "Eine Checkliste, die am Objekt eingeblendet wird, lohnt sich insbesondere für Tätigkeiten, die regelmäßig anfallen: z.B.Verschleißteile austauschen und Standardfehler beheben. Hier können die Kosten für die Entwicklung auf viele Kunden verteilt werden. Bei einer Sondermaschine ist dies oft nicht gegeben."
Etliche Hersteller sähen die Wartung zudem als ihre ureigene Serviceaufgabe bzw. zusätzliches Geschäftsmodell an oder wollen sie wegen der Haftung nicht aus der Hand geben. Die Begleitung aus der Ferne sei dann ein guter Kompromiss.
Derzeit wappneten sich Unternehmen für einen neuen Lockdown und drängten ihre Kunden und Lieferanten dazu, auf digitale Lösungen umzustellen. Dabei sollen sie ebenfalls um die Akzeptanz der Belegschaften werben - auch der eigenen. "Da reicht es nicht, dass der Chef eine gute Idee hat und sie per Anweisung zu etablieren versucht, wenn der Mitarbeiter weiterhin denkt: Was soll das? Per WhatsApp hat man es doch bislang auch hinbekommen!" Multiplikatoren, Erfahrungsberichte, Schulungen und mehrfaches Ausprobieren von verschiedenen Geräten in Szenarien, bei denen man den Nutzen selbst erkennt, könnten jetzt auf den Ernstfall vorbereiten.