Direktor des Bolschoi-Theaters zu Corona
28. Mai 2020Wladimir Georgijewitsch Urin, 73, gehört zu den einflussreichsten Figuren der russischen Kulturszene. 2013, nach einer Serie von Skandalen, übernahm der erfahrene Theatermann die Leitung des Bolschoi, des russischen "Theater Nummer Eins", das nicht nur geographisch in der unmittelbare Kreml-Nähe liegt. Die Corona-Pandemie, die Russland fest im Griff hat, stellt auch das Bolschoi und seinen Direktor vor nie erahnten Herausforderungen.
DW: Fangen wir bei der Sicherheit an. Wenn das Bolschoi-Theater eines Tages wieder öffnet, wie wollen Sie im Zuschauerraum und auf der Bühne die in Russland geforderten zwei Meter Abstand gewährleisten?
Wladimir Urin: Lassen Sie uns bei denjenigen anfangen, ohne die unsere Zuschauer erst gar nicht ins Theater kommen werden – bei den Künstlern. An die denke ich als Theaterdirektor an erster Stelle. Während im Schauspielhaus bei einer Vorstellung zehn bis zwölf Künstler auf der Bühne sind, sitzen in einem Musiktheater allein im Orchestergraben mindestens achtzig Personen. Sie können da natürlich keine Distanz wahren. Das ist leider komplett unmöglich in einem Musiktheater mit seinen "Massenkollektiven" wie Orchester, Chor, Komparsen. Sie können höchstens die Körpertemperatur der Mitarbeiter messen. Eine Maske bei einem Chorsänger ist aber undenkbar. Genauso wie bei einem Blasmusiker.
Auch Ballett-Tänzer müssen sich auf der Bühne gegenseitig anfassen, anders geht es nicht. Das heißt im Klartext: ein Musik- und Tanztheater kann erst wieder öffnen, wenn all diese Vorsichtsmaßnahmen aufgehoben werden, mindestens gegenüber den Künstlern. Wenn das passiert, werden wir unsere Zuschauer im Saal nicht mehr mit einem Sicherheitsabstand setzen müssen und jeden zweiten Stuhl frei lassen.
Einige ihrer Kollegen schlagen vor, Partituren so zu bearbeiten, dass sie weniger "gefährlich" sind. Vielleicht könnte man etwa Blasinstrumente, die wohl besonders große Aerosol-Wolken produzieren, durch weniger gefährliche ersetzen?
Das sind natürlich Phantasien, die keinen Bezug zu unserer Realität haben. Darum habe ich beschlossen, ab sofort alle in den Urlaub zu schicken. Das sind bei den Künstlern 56 Kalendertage. Das Kollektiv nimmt die Arbeit erst Ende Juli wieder auf. Ich hoffe sehr, dass die Situation in diesen zweieinhalb Monaten klarer wird. Erst dann können wir an den Beginn der Proben denken. Denn ohne Proben geht im Theater gar nichts.
Wie lange brauchen Ihre Ballett-Tänzer zum Beispiel, um wieder in Form zu sein?
Wenn man diese lange Pause seit März bedenkt, dann brauchen sie sehr viel Zeit. Selbst wenn man berücksichtigt, dass unsere Tänzer die ganze Zeit zu Hause weiter trainieren, sprechen wir von vier Wochen mindestens, die sie brauchen werden, um das Bolschoi-Repertoire wieder tanzen zu können. Wir sprechen also von Mitte September, nicht früher.
Wie halten Ihre Ballett-Tänzer ihre Form?
Sie stehen jeden Tag an der Stange. Ich bin im Bilde darüber, weil sie ihre Videos posten. Wir halten auch Kontakt zueinander. Mehr noch: Wir haben jedem Tänzer und jeder Tänzerin Linoleum nach Hause gebracht, das ihnen den Tanzboden ersetzt. Opernmusiker, Solisten und Chorsänger brauchen etwas weniger Zeit.
Damit Ihre Kollegen überhaupt weiterarbeiten können, brauchen sie Geld. Dabei sind Opernhäuser die teuerste Kunstform überhaupt. Sie verkaufen gerade keine Tickets, haben keine Einnahmen. Wie überleben Sie?
Mehr als 60 Prozent des Bolschoi-Budgets sind staatliche Subventionen. Der Rest sind unsere Einnahmen und Sponsoren-Gelder. Alle Sponsoren-Gelder und staatlichen Subventionen bleiben uns bisher erhalten, obwohl wir gerade nicht arbeiten. Außerdem hat die Regierung vor kurzem zusätzliche Mittel zur Unterstützung des Bolschoi und der Eremitage in Sankt Petersburg beschlossen, weil beide Häuser einen Extra-Posten im Staatshaushalt haben. Damit wir die Arbeitslöhne unserer Mitarbeiter ganz zahlen können, mit wirklich minimalen Kürzungen.
Denken Sie darüber nach, die Honorare der Stars zu kürzen?
Sie sprechen sicherlich von den internationalen Stars. Dieses Thema beschäftigt zur Zeit nicht nur mich, sondern auch die Intendanten aller großen Häuser weltweit. Ich bin mir fast hundertprozentig sicher, dass die wirtschaftliche Lage die Kürzung dieser Honorare mit sich bringt. Zweifelsohne.
Dann machen Sie vielleicht auch die Tickets günstiger?
Ich bin auch hier sicher, dass das kommt. Erstens, weil unsere Zuschauer eine psychologische Barriere spüren werden. Sie werden Angst haben, sich im Theater, Konzertsaal oder Kino anzustecken. Zweitens wird sich auch ihre persönliche wirtschaftliche Situation ändern. Wenn wir das als Theaterchefs nicht berücksichtigen, werden wir verlieren.
Sprechen wir nochmal über die Künstler: Diese sind ja gewohnt, im Theater eine Familie zu sein und dort sehr viel Zeit miteinander zu verbringen. Wie schwer ist diese Auszeit für ihre Psyche?
Alle träumen davon, ins Theater zurückzukehren. Ich kann das sehr gut verstehen, denn das Bühnen-Leben eines Künstlers ist kurz – im Ballett sogar sehr kurz.
Mit 35 in Rente?
Bei Solisten: ja, vielleicht mit 37 Jahren. Beim Corps de Ballett geht man mit 40 in Rente. Das bedeutet: Nur 20 Jahre auf der Bühne, das ist das Tänzer-Schicksal. Und da ist ein halbes Jahr, das einfach gestrichen wird, schon sehr viel Zeit.
Das Bolschoi ist ein international aufgestelltes Haus, Solisten und Regisseure kommen für Produktionen aus der ganzen Welt. Wie sieht ihre Planung da aus?
Wir planen drei bis vier Jahre im Voraus. Natürlich müssen nun alle Pläne korrigiert werden, weil wir eine ganze Reihe von geplanten Produktionen nicht haben umsetzen können. Bei vielen Produktionen sind ausländische Künstler beteiligt. Darum werden wir die Pläne dahingehend anpassen, dass vor allem die Premieren mit russischen Künstlern stattfinden können.
Das Gespräch führte Juri Rescheto (DW Moskau)